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Chronik

1976

Januar

Seit 1976 gibt es eine konspirativ tätige KPD-ML/DDR, die die Politik der SED als revisionistisch kritisiert. Sie hat etwa 50 Mitglieder in Berlin und verfügt in den großen Städten der DDR über eigene Zellen. Zwischen 1977 und 1981 wird sie vom Ministerium für Staatssicherheit zerschlagen.

Seit 1976 wird der Einsatz von Bausoldaten nach einer zehntägigen Grundausbildung dezentralisiert durchgeführt, um Organisationsmöglichkeiten zu erschweren.

1976 verlassen 15.168 Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik.

Vor dem Strafgericht in Ost-Berlin wird gegen den „professionellen Menschenhändler“ Rainer Schubert verhandelt; er erhält 15 Jahre Freiheitsentzug. Im November 1977 beginnt eine ganze Prozesswelle gegen Fluchthelfer.

Februar

Mit einem selbst gebauten U-Boot versuchen zwei DDR-Bürger durch die Elbe in die Bundesrepublik zu flüchten. Sie werden entdeckt und inhaftiert.

Politbüro und Ministerrat beschließen die Förderung des privaten Handwerks. Der Widerstand gegen die Verstaatlichung der Handwerksgenossenschaften hatte Erfolg.

März

Das Post- und Fernmeldeabkommen zwischen beiden deutschen Staaten wird unterzeichnet.

April

Zwischen SED und der Evangelischen Kirche kommt es zur Annäherung. Hans Seigewasser (SED) trifft sich mit Mitgliedern von Vorstand und Präsidium der Synode.

In Ost-Berlin wird der Palast der Republik eröffnet. Das Gebäude wird unter anderem der Sitz der DDR-Volkskammer.

Mai

Der frei gekaufte ehemalige politische Häftling Michael Gartenschläger wird bei dem Versuch, Selbstschussgeräte an der innerdeutschen Grenze abzubauen, von einer Einsatzgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit erschossen.

Ulrike Meinhof erhängt sich in ihrer Gefängniszelle in Stuttgart Stammheim.

In Moskau geben Bürgerrechtler die Gründung der „Öffentlichen Gruppe zur Verwirklichung der Kontrolle der Erfüllung der Helsinki-Abkommen in der Sowjetunion“ bekannt.

Erste oppositionelle „Werkstatt“ der Jungen Gemeinde Jena.

IX. Parteitag der SED: Erich Honecker wird Generalsekretär der SED und Erich Mielke wird Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED.

Zentralkomitee und Freier Deutscher Gewerkschaftsbund beschließen neue Arbeitszeiten: die 42-Stunden-Woche für Schichtarbeiter, die 43 ¾-Stunden-Woche für alle anderen Werktätigen.

Juni

Der polnische Parteichef Edward Gierek besucht die Bundesrepublik.

Tramper schlafen in der Altenburger Fußgängerzone ihren Rausch aus. Quelle: BStU, MfS, ZAIG Nr. 5521, S. 15, Fo. 4

Anfang Juni 1976 bietet sich den Einwohnern der thüringischen Kleinstadt Altenburg ein ungewöhnlicher Anblick: Etwa 2.500 langhaarige Jugendliche kommen zur 1000-Jahr-Feier der Stadt und kampieren in den Straßen. Auf einen solchen Ansturm sind weder die Stadt noch die Ordnungshüter vorbereitet. „Wir machen was wir wollen!“ – Parolen wie diese führen zu Verhören, Verhaftungen und mehreren Monaten Gefängnis. Dabei wollen die Jugendlichen einfach nur frei sein.
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Im südafrikanischen Soweto, einem vorwiegend von Schwarzen bewohnten Vorort von Johannesburg, kommen bei der polizeilichen Niederschlagung von Unruhen 176 Menschen ums Leben. Bei den Mutual Balanced Force Reductions (MBFR)-Verhandlungen in Wien über die gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen (und damit zusammenhängenden Maßnahmen in Europa) legt die UdSSR zum ersten Mal Zahlen über die Truppenstärken des Warschauer Pakts vor.

Erhöhung der Lebensmittelpreise in Polen angekündigt. Die Bevölkerung reagiert mit einer Streikwelle.

In Ost-Berlin findet eine Konferenz von 29 kommunistischen Parteien statt. Die Reden der Teilnehmer werden in der SED-Zeitung Neues Deutschland gedruckt. So erreichen auch die eurokommunistischen Positionen offiziell die Bürger der DDR.

Juli

Als Reaktion auf Repressionen der Staatsführung gegen Teilnehmer an Arbeiterprotesten entsteht das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR). Das Hauptziel des KOR sind finanzielle Unterstützung und Rechtsbeistand für verfolgte Arbeiter.

33 Bürger aus Riesa fordern in einer Petition die Achtung der Menschenrechte von Erich Honecker.

In Brüssel beschließt der Europäische Rat die Direktwahl eines europäischen Parlaments für 1978. Die Sowjetunion protestiert gegen die Einbeziehung Berlins, die Westmächte weisen diese Kritik zurück.

August

Am Grenzübergang Hirschberg / Rudolphstein wird der italienische Lastwagenfahrer Benito Corghi von DDR-Grenzern erschossen.

Das Anti-Terror-Gesetz tritt in Kraft. Es stellt die „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ unter Strafe.

Der Pfarrer Oskar Brüsewitz setzt sich aus Protest gegen die DDR-Regierung auf dem Marktplatz von Zeitz selbst in Brand. Er stirbt vier Tage später.

Oktober

Wahlen zum Bundestag. Bestätigung der sozialliberalen Koalition.

„Wahl“ der Volkskammer und der Bezirkstage. Es wird gemeldet, dass 99,86 Prozent der Wähler für die Einheitsliste gestimmt hätten.

Durch ein veröffentlichtes Dekret des Vatikans wird die bisherige „Berliner Ordinarienkonferenz“ in eine von der „Deutschen Bischofskonferenz“ unabhängige „Berliner Bischofskonferenz“ für das Gebiet der DDR umgewandelt.

Rainer Kunze wird aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Am 13. April 1977 verlässt er die DDR. Erich Honecker wird Staatsratsvorsitzender.

November

In Zwickau protestiert der 22-jährige Hans Jürgen Breitbarth mit selbstgefertigten Protestzetteln gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Er wird verhaftet und zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.

889 Arbeiter aus dem polnischen Ursus fordern in einem Brief an die Regierung die Wiedereinstellung aller nach dem Juni-Streik Entlassenen.

Der in der DDR mit Auftrittsverbot belegte Liedermacher Wolf Biermann gibt in der Kölner Sportarena ein Konzert. Dieses Konzert wird vom Politbüro der SED als Vorwand für Biermanns Ausbürgerung benutzt.

Da er mit einem Auftrittsverbot belegt ist, kann Wolf Biermann sein Lied zum Putsch in Chile nicht während der X. Weltfestspiele in Ost-Berlin präsentieren. Stattdessen trägt er das Lied am 30. Juni 1973 Journalisten in seiner Wohnung vor. Quelle: Archiv StAufarb, Bestand Mehner, 73_0731_KUL_Musik_06

Wolf Biermann wird nach einem Gastspiel in der Bundesrepublik Deutschland die Wiedereinreise in die DDR verweigert und das „Recht auf weiteren Aufenthalt in der DDR entzogen“. Seit den 1960er Jahren spielt Biermann mit seinen Liedern und Texten eine wichtige Rolle im kleinen Kreis der kritischen DDR-Intelligenz. Über die Heftigkeit des Protests, der nach der Ausbürgerung im ganzen Land ausbricht, ist nicht nur die Partei- und Staatsführung, sondern auch die Stasi überrascht.
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Eine der vielen Veranstaltungen in den Räumen der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte um 1973/74. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Am 17. November 1976 findet eine Lesung des Schriftstellers Jurek Becker im Jenaer Klub der Intelligenz statt. Becker berichtet gleich zu Beginn der Lesung über die „Erklärung der Berliner Künstler vom 17.11.1976“, über die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Es kommt zu einer angeregten Debatte und zu spontanen Solidaritätserklärungen. Plötzlich wird aus der Lesung eine politische Veranstaltung. Weitere Aktionen sollen folgen.
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1976 protestiert Christa Wolf mit Ihrer Unterschrift unter dem Offenen Brief gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Im Bild Christa Wolf am 29. Oktober 1989 bei einer Veranstaltung in der Erlöserkirche in Ost-Berlin. Vor 4.000 Zuhörern fordern Künstler der DDR von der Einheitspartei SED die Aufgabe des Anspruchs der Alleinvertretung. Unter dem tosenden Beifall der Besucher in der überfüllten Kirche benennt Christa Wolf den Stalinismus als das Grundübel des Staates. Quelle: Archiv StAufarb, Bestand Klaus Mehner, 89_1029_POL_SoliArt_09

Zwölf namhafte Künstler der DDR protestieren mit einem offenen Brief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Immer mehr Menschen schließen sich DDR-weit mit ihrer Unterschrift diesen Protesten an.
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Aus Protest gegen die Ausbürgerung Biermanns hängt ein 22-jähriger Student zwei selbst geschriebene Artikel an die öffentliche Wandzeitung der Hennigsdorfer Ingenieurschule. Darin ruft er seine Kommilitonen dazu auf, Eingaben an den Staatsrat der DDR zu schicken.
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Junge Jenenser auf einer Wanderung im Juni 1976.

Mitglieder der Jungen Gemeinde Jena Stadtmitte und ihre Freunde unterstützen den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns mit einer Unterschriften-Aktion. In der Nacht auf den 19. November werden insgesamt 40 Personen von der Stasi verhaftet.
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Der 25-jährige Schriftsteller Jürgen Fuchs wird auf dem Grundstück von Robert Havemann verhaftet. Ihm wird "staatsfeindliche Hetze im verschärften Falle" vorgeworfen. Er hat die Petition namhafter DDR-Künstler gegen die Ausbürgerung Wolf Biermann unterschrieben und dafür gesorgt, dass das Papier abgeschrieben und in der DDR verbreitet wird.

Am 20. November 1976 protestieren Jugendliche aus dem Kreis Nauen gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns.
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Christian Kunert und Gerulf Pannach unterschreiben die Petition für die Rücknahme der Ausbürgerung Biermanns. Als Freunde der Oppositionellen Robert Havemann und Jürgen Fuchs hat die Stasi sie bereits im Visier. Sie werden auf dem Berliner Alexanderplatz verhaftet. Nach neun Monaten Schikane im Gefängnis der Stasi in Berlin Hohenschönhausen stimmen sie ihrer Ausreise zu.

Quelle: Neues Deutschland, 22. November 1976, S. 3

Kulturschaffende bekennen Farbe: Die Zustimmung linientreuer DDR-Künstler zur Ausbürgerung Wolf Biermanns wird im Neuen Deutschland abgedruckt.
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Thomas Wagner Ende der 1970er Jahre. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

In Erfurt wird Thomas Wagner wegen seines Protests gegen die Biermann Ausbürgerung verhaftet und zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Seine Mitstreiterin Gabriele Kachold-Stötzer wird seit ihrer Beteiligung an der Unterschriftenaktion wöchentlich von der Stasi verhört und schließlich am 6. Januar 1977 verhaftet. Sie wird verurteilt und muss für ein Jahr hinter Gitter.
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Passfoto von Roland Jahn aus seinem Studienbuch. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

In einem Seminar zum Wissenschaftlichen Kommunismus kritisiert der Jenaer Student Roland Jahn die Ausbürgerung Wolf Biermanns scharf. Im Februar 1977 wird er von der Universität exmatrikuliert. Die Aufnahme eines Studiums in der DDR ist ihm fortan verwehrt. Wie Roland Jahn geht es vielen jungen Studenten, die in ihren Seminaren offen und frei diskutieren wollen.
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Die Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die Dietmar Webel am 20. November 1976 schreibt. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft (BStU-Kopie)

Der 17-jährige Lehrling Dietmar Webel wird in Halle verhaftet, weil er Unterschriften gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns gesammelt hat. Webel bleibt für drei Monate in Untersuchungshaft. Im anschließenden Prozess wird er zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Ähnlich wie Dietmar Webel reagieren auch andere junge Hallenser auf die Ausbürgerung Biermanns.
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Seit 1963/64 sind Wolf Biermann und Robert Havemann befreundet. Der Regimekritiker ist für den Liedermacher nicht nur ein politischer Weggefährte. Der viel ältere Robert Havemann ist zugleich ein Ersatzvater für Wolf Biermann, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde. Das Bild zeigt die beiden Freunde Mitte der 1970er Jahre auf dem Grundstück von Robert Havemann in Grünheide bei Berlin. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Katja Havemann/RHG_Fo_HAB_09789

Wegen seiner oppositionellen Tätigkeiten wird der Dissidenten Robert Havemann in seinem eigenen Haus eingesperrt. Mehr als zwei Jahre können sich weder Robert Havemann noch seine Familie frei bewegen. Dennoch knüpft er immer neue Kontakte zu jungen Oppositionellen.
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Dezember

Die drei Ostberliner Krankenpfleger Thomas Evler, Friedemann Gehlke und Christoph Rohr werden verhaftet, als sie Flugblätter gegen die Ausbürgerung Biermanns verteilen. Sie werden zu Gefängnisstrafen zwischen drei und vier Jahren verurteilt.
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Wiederwahl Helmut Schmidts zum Bundeskanzler der Bundesrepublik.

Austausch und damit Freilassung des sowjetischen Dissidenten und Schriftstellers Wladimir Bukowski, der in der Sowjetunion in Haft war, gegen den chilenischen KP-Chef Luis Corvalán, der Häftling des Pinochet-Regimes war.

Dem ARD-Korrespondenten Lothar Loewe wird wegen „Diffamierung des Volkes und der Regierung“ die Akkreditierung in der DDR entzogen. Er hat den Schießbefehl kritisiert.


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