Fünf Minuten Schweigen für Ungarn
Während der Weihnachtstage 1956, zwei Monate nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, flüchten nahezu alle Schülerinnen und Schüler einer 12. Klasse der Kurt-Steffelbauer-Oberschule aus dem kleinen Städtchen Storkow in der Mark Brandenburg nach West-Berlin. Wenige Monate später hätten sie das Abitur in der Tasche gehabt. Warum flüchten sie kurz vor dem Schulabschluss?
Dabei beginnt das Jahr 1956 vielversprechend. Im Februar prangert der neue Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Nikita Chruschtschow, auf dem XX. Parteitag seiner Partei die Verbrechen Stalins an. Im gesamten Ostblock entwickelt sich eine kurze Phase der innenpolitischen Liberalisierung. Dass der zuvor gottähnlich verehrte Genosse Stalin nun als Verbrecher dargestellt wird, führt unter den Parteimitgliedern der KPdSU zu einer tiefen Glaubenskrise.
Auch die Genossen der SED in der DDR üben öffentlich Selbstkritik. Ein Ende stalinistischer Terrormethoden ist am Horizont. Doch im Herbst 1956 verändert sich die Lage wieder dramatisch, ausgelöst durch den Posener Aufstand in Polen im Juni und den Ungarn-Aufstand im November.
Diese Ereignisse schlagen auch die Oberschüler aus Storkow in ihren Bann. Als über den Westberliner Sender RIAS dazu aufgerufen wird, mit einer Schweigeminute der Toten in Ungarn zu gedenken, verabreden sich die Schüler der 12. Klasse der Storkower Oberschule am 29. Oktober spontan, von 10.00 bis 10.05 Uhr zu schweigen, auf keine Frage des Lehrers zu antworten. Einigen ist mulmig zumute, doch alle beteiligen sich. Der Geschichtslehrer, zugleich FDJ- und Parteisekretär der Schule, ist irritiert, aber unternimmt zunächst nichts.
Am nächsten Tag macht die Meldung die Runde, dass Ferenc Puskás, der beliebte Spielführer der damals legendären ungarischen Fußballnationalmannschaft, im Kampf gegen die Rote Armee gefallen sei. Erneut entscheidet sich die Klasse während einer Freistunde zu einer Schweigeminute. Später stellt sich heraus, dass die Nachricht über Puskás Tod eine Falschmeldung ist.
Fast zwei Wochen vergehen, ohne das etwas geschieht. Die Schüler bereiten sich auf die Abiturprüfungen vor, die Schweigeaktion ist fast vergessen. Doch plötzlich werden einzelne zum Direktor gerufen und verhört. Er will die Namen des oder der Rädelsführer wissen, kriegt aber nichts raus. Zunächst erhält die gesamte Klasse beim montäglichen Fahnenappell eine Rüge. Doch dann werden das MfS, die SED-Bezirksleitung und der Zentrale Parteiapparat in Berlin von der Schulleitung informiert.
Selbst der Minister für Volksbildung, Fritz Lange, reist an und fordert von der Klasse in rüdem Ton, die Rädelsführer preiszugeben – vergeblich. Nun erhalten die Schülerinnen und Schüler ein Ultimatum: Wenn nicht alsbald die Rädelsführer genannt werden, wird die gesamte Klasse der Schule verwiesen – mit dem Abitur wäre es endgültig aus. Der Druck auf die Schüler und deren Eltern wächst, doch die Klasse hält weiter zusammen, zumal es bei dieser spontanen Aktion keine Rädelsführer gab.
Die meisten sehen nur noch einen Ausweg – die Flucht. Sie fällt den Schülern besonders schwer, denn alle fühlen sich mit ihren Familien eng verbunden. Von den 20 Schülerinnen und Schülern verbleiben daher vier Mädchen in der DDR.
„Doch während die Schweigenden verstummen, hören die Diktatoren zu. Bis sie die Sprache des Schweigens verstanden haben.“ So erklärt Jahrzehnte später Dietrich Garstka, einer der Beteiligten, warum die Schüler sich gezwungen sehen, das Weihnachtsfest 1956 nicht im Kreis ihrer Familien, sondern in einem Westberliner Flüchtlingslager zu verbringen. Im März 1957 können er und 15 weitere Klassenkameraden in Bensheim an der Bergstraße das Abitur nachholen.
Dies ist nicht die erste Flucht einer Schulklasse. Bereits im Juni 1950 bitten 25 Schüler der Potsdamer Einstein-Oberschule in West-Berlin um politisches Asyl. Sie haben sich u.a. geweigert, der FDJ beizutreten. Daraufhin wird die gesamte Oberstufe der Schule aufgelöst.
Zitierempfehlung: „Fünf Minuten Schweigen für Ungarn“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145437