Wohnungsbesetzungen in Ost-Berlin
In der DDR ist Wohnraum knapp und eine eigene Wohnung schwer zu bekommen. Gleichzeitig stehen aber in den Ostberliner Bezirken Prenzlauer Berg oder Friedrichshain viele Altbauwohnungen leer. Sie sind in einem schlechten baulichen Zustand und gelten als unbewohnbar. Diesen Umstand machen sich vor allem junge Leute zunutze: Sie ziehen in die Wohnungen erst einmal ungenehmigt ein und bemühen sich nachträglich um einen Mietvertrag mit der Wohnungsverwaltung. Manchmal erfolgreich, manchmal vergeblich.
Sophia aus der Provinz sucht eine Wohnung in Ost-Berlin
In seinem Buch „Das Chaos ist aufgebraucht, es war die schönste Zeit – Fragmente zur Geschichte der Offenen Arbeit Berlin und der Kirche von Unten“ (Berlin 1997) schildert Dirk Moldt, wie man eine besetzte Wohnung bei den DDR-Behörden mit viel Mut und Glück erfolgreich „legalisieren“ konnte.
Hier Auszüge in leicht veränderter Form:
„[...] erfinden wir an dieser Stelle einfach eine Person, sagen wir Sophia, die jetzt noch einmal für uns eine mustergültige Wohnungsbesetzung vornehmen wird. Sophia kommt aus einer Kleinstadt im Süden der DDR und hat beschlossen, wie schon einige Bekannte vorher, nach Berlin zu ziehen. Sie sucht sich eine schöne Einraumwohnung in einem Hinterhaus, nicht zu dunkel gelegen, und lässt sie sich, weil die Tür nicht aufzuschließen geht, von einem kräftigen Freund auflatschen.
Das passiert um die Mittagszeit, wenn die Leute auf der Arbeit sind. Nachdem das neue Schloss eingebaut ist, hängt Sophia Gardinen vor die Fenster. Dann stellt sie Blumen auf die Fensterbank und befestigt ihr Namensschild an der Wohnungstür und an einem unbenutzten Briefkasten. Damit ist die Wohnung nach außen hin als bewohnt zu erkennen. Von einem Nachbarn lässt sie sich die Kontonummer der KWV (Kommunale Wohnungsverwaltung) geben, auf das sie dann einen geschätzten Betrag der Mietzahlung überweist. Es ist üblich, dass nach drei eingegangenen Mietzahlungen der Tatbestand einer Duldung vorliegt.
Sophia erkundigt sich außerdem nach dem Hausbuchinhaber. Zu diesem geht sie dann, stellt sich höflich vor und erklärt, dass ihr die Wohnung zugewiesen wurde. Der Hausbuchbeauftragte ist hier ein etwas mürrischer Kerl, den seine ehrenamtliche Tätigkeit, das Ein- und Austragen der Bewohner des Hauses, schon seit Langem nervt.
Hausbuchverwalter: So, Sie wollen hier einziehen?`
Sophia: Ja, ich bin gerade dabei.`
Hausbuchverwalter: Haben Sie eine Zuweisung?`
Sophia: Natürlich!`
Hausbuchverwalter: Zeigen Se mal her!`
Sophia: Nö, äh, ich habe sie noch bei meinen Eltern.`
Hausbuchverwalter: Also, keine Zuweisung?`
Sophia: Aber doch, nur jetzt nicht hier.`
Hausbuchverwalter: Denn müssen Se die holen. Vorher kann ich Se nicht einschreiben.`
Anderntags geht Sophia zur Meldestelle der Polizei, um sich ihre neue Adresse in den Ausweis eintragen zu lassen. Dort fragt man sie auch nach der notwendigen Zuweisung.
Sophia: Die Zuweisung? Nee, das wusste ich gar nicht, dass man die mitbringen muss! Danach bin ich auch vorne bei der Anmeldung nicht gefragt worden. Ich sehe mal nach, ob ich sie bei mir habe. [...] Als ich mich in das Hausbuch eintragen ließ, belehrte mich der Hausbuchbeauftragte, dass ich innerhalb von drei Tagen meiner Anmeldepflicht nachkommen müsse.`
Polizistin: Sie sind also schon im Hausbuch eingetragen?`
Sophia: Ja, sicher. Man sagte mir, dass ich das als Erstes machen müsse. Wissen Sie, ich will den ganzen Behördenkram endlich hinter mir haben. Ich stecke mitten im Umzug und weiß nicht mehr, wo vorne und hinten ist. Warum hat man mich bei der Anmeldung nicht nach der Zuweisung gefragt? Ich hätte mir die zwei Stunden Warterei sparen können.`
Altes Hausbesetzer-Prinzip: Erst mal Tatsachen schaffen
Die Polizistin sitzt seit acht Stunden hinter ihrer Schreibmaschine, nimmt seitdem die Anliegen der genervt Wartenden entgegen. Es ist kurz vor Büroschluss und das Wartezimmer immer noch knüppeldicke voll. Man hat Sophia geraten, am besten zu dieser Zeit in die Meldestelle zu gehen. Die müde Polizistin nimmt wortlos Sophias Ausweis, dreht ihn in die Schreibmaschine und fragt nach der neuen Adresse. Als ihr die Polizistin den Ausweis abgestempelt und unterschrieben zurückgibt, ist die Freude echt.
Sophia renoviert mit Freunden die Wohnung, räumt ihr Zeug ein und macht eine gemütliche Einweihungsparty. Vorher geht sie noch einmal zum Hausbuchverwalter.
Hausbuchverwalter: Haben sie jetzt Ihre Zuweisung mit?`
Sophia: Die ist schon auf dem Wohnungsamt, wo dann der Mietvertrag gemacht werden soll. Aber bei der Polizei bekommt man ja keine Eintragung ohne Zuweisung.`
Dabei klappt Sophia ihren Ausweis auf und hält ihn dem Hausbuchbeauftragten vor die Nase.
Hausbuchverwalter: Na, denn komm' Se mal rein.`
Innerhalb von zwei Minuten ist die schwere Amtshandlung vollzogen.
Nun kommt der wichtigste Schritt. Sophia unterrichtet die Wohnungsverwaltung von ihrer Besetzung. Diese hätte sich ohnehin aufgrund der eingegangenen Mietzahlungen früher oder später bei ihr gemeldet. Es ist besser, so erklärten Insider Sophia, an dieser Stelle offensiv vorzugehen. Da sie seit einem Dreivierteljahr in einer seit zwei Jahren leer stehenden Wohnung lebe und sie sich nun in einem Zustand guter Hoffnung, einer Schwangerschaft also, befinde, gedenke sie diese Angelegenheit endlich vertraglich zu regeln.
Zuweisung?! Mietvertrag?! Wohnungsantrag?!
Zwei oder drei Wochen darauf wird Sophia ins Wohnungsamt vorgeladen.
KWV-Angestellte: Sie sind eigenmächtig in die Wohnung in der Manfred-Müller-Straße 7 gezogen. So geht das aber nicht! Haben Sie denn schon einen Wohnungsantrag gestellt?`
Sophia erzählt ganz zerknirscht von den Gründen ihrer Tat. Sie wisse ja auch, dass das nicht in Ordnung sei, aber die Wohnung stehe seit zwei Jahren leer und dass schon einige Leute mit einer Zuweisung diese Wohnung abgelehnt hätten.
Wir ersparen Sophia die finstere Argumentation seitens der KWV-Angestellten, nach der das Kind erst einmal wirklich lebendig da sein müsse, um einen Wohnungsbedarf rechtfertigen zu können. Stattdessen beschränken wir uns hier auf die übliche Verhandlungsstrategie.
KWV-Angestellte: Wir können niemandem diese Wohnung angeboten haben, denn sie ist ja gesperrt!`
Sophia: Gesperrt, wieso denn?`
KWV-Angestellte: Aus baupolizeilichen Gründen.`
Sophia: Ach, da meinen Sie gewiss die Nachbarwohnung! Die ist wirklich gesperrt. Sie können sich ja davon überzeugen, dass bei mir alles in Ordnung ist.`
Die KWV-Angestellte wird unsicher. Auf die Eintragungen in den Heftern ist schon lange kein Verlass mehr.
KWV-Angestellte: Zeigen Sie mal Ihren Ausweis! Ach, Sie sind ja schon auf die neue Adresse eingetragen?`
Nach einigem Hin und Her wird Sophia darauf hingewiesen, dass sie keinen Anspruch auf ihre Wohnung hat und dass ihre Angelegenheit weitergereicht wird. Sophia bekommt ein Formular in die Hand gedrückt, bei dem sie mit Erstaunen feststellt, dass es speziell für illegale Wohnungseinzüge angefertigt wurde. Also hatte man sich hier schon längst auf die Besetzer eingestellt. Mit der Aufforderung, bis auf Weiteres die Miete pünktlich zu zahlen, wird sie entlassen.
Einige Wochen später bekommt Sophia das Urteil eines Ordnungsstrafverfahrens zugeschickt. Sie soll 300 Mark bezahlen. Im Kuvert liegt auch eine Vorladung zur Wohnungspolitik. Dort erfährt sie, dass sie, wenn sie ihre Ordnungsstrafe bezahlt, den Mietvertrag bekommt. Nun ist es an ihr, existenzielle Probleme einzuklagen. Wenn sie Glück hat, wird ihr die Ordnungsstrafe erlassen.“
Zitierempfehlung: „Wohnungsbesetzungen in Ost-Berlin“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145418