Todesurteile gegen junge Männer und Frauen aus Werder/Havel
Seit 1879 zieht es zahlreiche Berliner nach Werder/Havel bei Potsdam, um in diesem idyllischen Städtchen mit seinen Obstplantagen im Frühjahr das Baumblütenfest zu feiern. Doch im Frühjahr 1952 wird diese Idylle jäh und brutal unterbrochen. In einer Serie von Prozessen verurteilt ein Sowjetisches Militärtribunal (SMT) sieben junge Frauen und Männer im Alter zwischen 20 und 24 Jahren zum Tode – Urteile, die Monate später in Moskau vollstreckt werden. Vierzehn weitere Mitverurteilte erhalten Arbeitslager-Haftstrafen zwischen 10 und 25 Jahren. Weitere sechs junge Frauen und Männer schickt das Landgericht Potsdam im März 1952 für dreieinhalb bis sechs Jahre ins Zuchthaus.
Die meisten von ihnen kennen sich aus der gemeinsamen Schulzeit in Werder, einige sind Mitglieder einer Laienspielgruppe. Als die nationalsozialistische Diktatur im Mai 1945 endet, sind sie 13 bis 17 Jahre alt und wissen deshalb – mehr oder weniger –, was eine Diktatur bedeutet. Hoffnung kommt auf, denn für einige Zeit ist es vorbei mit Strammstehen und Marschieren, Führerkult und Fahnenschwenken. Doch die neue Freiheit währt nicht lange und eine neue Diktatur wirft ihre Schatten voraus. Das frei gewählte Schulparlament wird aufgelöst und durch eine FDJ-Gruppe ersetzt. Die Schüler erleben die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED im Frühjahr 1946, Mitschüler werden ungeachtet bester schulischer Leistungen aus politischen Gründen nicht zur Oberschule zugelassen. Organisierte Freizeitgestaltung wie Literatur- oder Tischtenniszirkel sind nur im Rahmen der FDJ oder des Kulturbundes zulässig. Doch noch ist die Grenze zum nahen West-Berlin offen. Wer in Werder die Schule verlassen muss oder nicht zur Oberschule oder zum Studium zugelassen wird, kann in West-Berlin zur Schule gehen oder studieren.
Gegen die sich neu herausbildende Diktatur beginnen sich ab 1950 etwa 30 junge Frauen und Männer aus Werder zu wehren. Die Lehrlinge, Schüler und Studenten möchten nicht schon wieder vorgeschrieben bekommen, was sie zu denken haben, Fahnenappelle abhalten und Treueschwüre auf Funktionäre abgeben müssen.
Im Vorfeld der für den 15. Oktober 1950 angesetzten Wahlen mit Einheitslisten zur Volkskammer der DDR verteilen sie in Werder und Umgebung Flugblätter und Texte gegen diese Pseudowahlen und zerreißen heimlich SED-Wahlpropaganda, statt sie zu verteilen. Einige junge Männer besorgen sich aus West-Berlin eine kleine Flugblatt-Rakete. Mit dieser schießen sie die Flugblätter einige Hundert Meter weit in einer Kapsel, die sich dann öffnet. Die Flugblätter verteilen sich so über ein größeres Gebiet.
Doch der Staatssicherheit gelingt es, aus diesem lockeren Kreis junger Leute Spitzel anzuwerben. Mitte Oktober 1950 kommt es zu den ersten Verhaftungen. Für manche wird die Flucht nach West-Berlin nun unvermeidlich, wie z. B. für Werner Bork und Herbert Herrmann. Letzterer entkommt den Stasi-Häschern nur durch einen Sprung aus dem Badezimmerfenster seines Elternhauses. Bork und Herrmann werden von West-Berlin aus zu den führenden Köpfen einer sich jetzt entwickelnden Widerstandsgruppe, die von weiteren jungen Leuten aus Werder unterstützt wird.
Um wirkungsvoller gegen das SED-Regime zu arbeiten, nehmen Bork und Herrmann Kontakt zur Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) auf. Vermittelt durch einen KgU-Mitarbeiter, lassen sie sich darauf ein, auch für das CIC (Counter Intelligence Corps der US-Army) und die Organisation Gehlen Informationen aus der DDR über sowjetische Truppen, über Partei- und Staatsfunktionäre, Transporte der Reichsbahn etc. zu sammeln. Für das Zusammentragen entsprechender Informationen und für Kurierdienste zwischen Werder und West-Berlin nutzen sie ihre alten Kontakte zu den in Werder verbliebenen Freundinnen und Freunden. Aber auch Bork selbst reist mit gefälschten Papieren in die DDR ein, um militärische Anlagen der Roten Armee auszukundschaften.
Doch der Staatssicherheit gelingt es immer erfolgreicher, in den Kreis um Bork und Herrmann einzudringen. Im Juni 1951 schlägt das MfS zu. 24 junge Frauen und Männer aus Werder und Umgebung werden verhaftet und in das Stasi-Gefängnis in Potsdam gebracht.
Im Frühjahr 1952 beginnen die Prozesse vor einem Sowjetischen Militärtribunal. Sieben junge Frauen und Männer aus Werder werden dabei zum Tode verurteilt. Für die Widerstandsgruppe bedeutet dies das Ende.
Am 10. April 1952 werden Johanna Kuhfuß (24 Jahre), ihr Bruder Heiner (22), Jochen Trübe (22) und Wilhelm Schwarz in der Moskauer Lubjanka durch Genickschuss hingerichtet. Der 22-jährige Günther Nawrocki wird am 13. August erschossen. Zwei Jahre später, am 3. April 1954, werden Inge Wolf (26) und Heinz Unger (21) ebenfalls durch Genickschuss hingerichtet.
Seit 2008 erinnert eine Gedenkstätte auf dem Alten Friedhof in Werder an die Hingerichteten, maßgeblich initiiert durch Werner Bork.
Zitierempfehlung: „Todesurteile gegen junge Männer und Frauen in Werder/Havel“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145423