Panzer wie in Berlin - Der 17. Juni 1953 in Magdeburg
Wie jeden Morgen begibt sich der 20-jährige Horst Linowski am 17. Juni 1953 zur Arbeit in seinen Betrieb: die Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) Ernst Thälmann in Magdeburg. Wie die meisten DDR-Bürger hat der Kranführer schon am Vorabend im West-Radio die Nachrichten über Streiks und Demonstrationen in Ost-Berlin gehört.
Gegen sieben Uhr, eine Stunde nach Schichtbeginn, treten in seinem Betriebsteil die Arbeiter in den Streik. Sie versammeln sich vor dem Werktor und ziehen gemeinsam in die Innenstadt. Unterwegs schließen sich immer mehr Menschen an. Vor dem Gefängnis in Sudenburg kommt es zu einer großen Ansammlung. Die Massen fordern, wie in anderen Städten auch, die Freilassung der politischen Gefangenen.
Der Versuch, das Magdeburger Gefängnis zu stürmen, schlägt fehl, denn gegen 13 Uhr erscheinen sowjetische Panzerfahrzeuge. Die werden von den Demonstranten mit einem Steinhagel empfangen. Das Militär feuert mit Maschinengewehren über die Menschenmenge. Die Fahrzeuge rücken langsam vor und räumen den Platz vor dem Gefängnis. Monate später, im Oktober 1953, wird ein am Sturm auf das Gefängnis beteiligter Arbeiter vom Bezirksgericht Magdeburg zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Totaler Ausnahmezustand in Magdeburg
Nach dem gescheiterten Sturm auf die Vollzugsanstalt kehrt Horst Linowski in seinen Betrieb zurück, zieht sich um und macht sich auf den Heimweg. Gegen Abend will er sich die sowjetischen Truppen anschauen, die in den Grünanlagen der Stadt Stellung bezogen haben. Ihm fällt ein Flugblatt in die Hände, auf dem die Besatzungsmacht den Ausnahmezustand verkündet. Impulsiv zerreißt er das Stück Papier. Ein sowjetischer Soldat beobachtet den widerspenstigen jungen Mann dabei und fordert ihn auf, mitzukommen. Horst Linowski nimmt sein Fahrrad. Im selben Augenblick fällt dicht hinter ihm ein Schuss: Der Sowjetsoldat nimmt an, er wolle fliehen.
Horst Linowski wird verhaftet. Es beginnt eine absurde Irrfahrt durch die Gefängnisse der Volkspolizei und der Besatzungsmacht. Ihm werden die Teilnahme an einer Demonstration und ein Fluchtversuch zur Last gelegt. Während der nächtlichen Vernehmungen wird er schwer misshandelt. Schließlich unterschreibt er ein Schuldgeständnis. Am 4. Juli 1953 steht der Gefangene vor einem Sowjetischen Militärtribunal. Ein Zeuge sagt aus, der Angeklagte habe Plakate mit der Mitteilung über den Ausnahmezustand und eine Fahne abgerissen. Aufgrund dieser Beschuldigung wird Horst Linowski zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt. Er verbüßt seine Strafe in der berüchtigten Strafanstalt in Bautzen. 1960 wird er aufgrund eines Gnadenerlasses des Staatsrats vorzeitig entlassen – sechs Monate und 16 Tage vor dem Ende seiner Haftzeit.
Mehrere Arbeitsunfälle während der Inhaftierung und die darauf folgende schlechte ärztliche Behandlung hinterlassen bei Horst Linowski schwere gesundheitliche Schäden. Doch noch viel belastender ist das Schweigen, das sich nun über die letzten siebeneinhalb Jahre seines Lebens senkt. Wie jeder DDR-Häftling musste er nämlich bei seiner Entlassung unterschreiben, dass er über die Erlebnisse im Gefängnis strengstes Stillschweigen bewahrt. Und so kann Horst Linowski mit keinem Menschen über seine Leidenszeit sprechen. Selbst seiner Frau erzählt er erst nach der Hochzeit von seiner Vergangenheit. Die staatlichen Behörden und Betriebsleitungen sind selbstverständlich über seine Vergangenheit informiert. Er steht fortan unter Beobachtung, so dass ein beruflicher Aufstieg ausgeschlossen ist.
Erst nach der Friedlichen Revolution 1989 bricht Horst Linowski sein Schweigen. Im Rahmen von Schülerprojekten und als ehrenamtlicher Verbandsfunktionär des Bundes der Stalinistisch Verfolgten (BSV) trägt er dazu bei, dass die Erinnerung an die Opfer des SED-Regimes nicht verblasst.
Zitierempfehlung: „Panzer wie in Berlin - Der 17. Juni 1953 in Magdeburg“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145350