Abschrift
Eine DFF-Fernsehsendung zu den Vorfällen an der Carl-von-Ossietzky-Schule aus dem Jahr 1989. Quelle: ”Ein Rausschmiß – und nun ? (Teil 1)“ aus der Sendereihe ”Klartext” v. 14.11.1989, Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv
Vor den Drohungen irdischer Macht,
die Anständigkeit der Haltung zu wahren.
Das ist eine der wenigen Genugtuungen,
die es im Leben gibt.
Hält man nicht durch, wird man weich.
Man bereut es ein Leben lang.
1932, Carl von Ossietzky.
Seit 1910 schon, ist hier immer Schule gewesen, früher als Gymnasium, heute nun als Erweiterte Oberschule. Und im Parterre gibt es seit Jahren etwas, das dem Geist Ossietzkys alle Ehre macht. Eine Wandzeitung, an der jeder zur Diskussion stellen kann, was ihn bewegt. Speakers Corner nennen sie sie. Diese Diskutierecke war Ausgangspunkt für einen bedrückenden Fall von Machtmissbrauch. Im September vorigen Jahres erschienen hier nämlich Artikel, die Kontroversen auslösten. Es ging um Solidarność in Polen und um den Sinn von Militärparaden bei uns. Das waren damals besonders sensible Themen. Die Diskussionen, die die gesamte Schule erfassten, weiteten sich zum Orkan, in dessen Folge sechs Schüler durch öffentlichen Hinauswurf die Schule verlassen mussten.
Was ist aus diesen sechs Schülern geworden? Fünf von ihnen sind noch da. Nicht in der Schule, aber im Lande. Wir baten sie, uns ihre Erlebnisse zu schildern. Kai Feller aus der elften Klasse relegiert, Georgia von Chamier zwangsumgeschult. Auch Shenja-Paul Wiens wurde umgeschult, hat aber inzwischen sein Abitur gemacht. Benjamin Lindner relegiert aus der zwölfte Klasse. Katja Ihle relegiert aus der elften Klasse, besucht seit September die Abendoberschule. Der sechste der damals gefeuerten Schüler lebt zurzeit in England bei seiner Mutter, Philipp Lengsfeld. Wir werden später mit ihm telefonieren. Die damaligen Schuldiskussionen um die Frage: "Warum rasseln wir mit Panzerketten, wo doch alle Welt auf Abrüstung eingestellt ist?", erfuhr Unterstützung durch eine Unterschriftensammlung der Schüler. Das aber war damals
ein unerhörtes Vorkommnis.
"Warum Unterschriftensammlung? Ich denke nach wie vor, dass eine Unterschriftensammlung eine geeignete Methode der Meinungsäußerung ist. Mir ging es vor allem darum, auch zu dokumentieren, dass eben längst nicht mehr alle Abiturienten nun voll auf der Linie der Führung dort mitreiten und, gegen die Militärparade: Das war mehr Zufall, die lag nun mal in dieser Zeit. Und die hat natürlich einen großen Symbolcharakter und strahlt irgendwo für mich immer eine Geisteshaltung aus, die ich für ein bisschen… so für ein Überbleibsel aus dem preußischen Militarismus halte. Und ich glaube also auch noch heute natürlich, dass wir uns, dass wir sowas heutzutage nicht mehr nötig haben."
"Nun wurde Ihnen aber übelgenommen, dass sie eine Unterschriftensammlung gemacht hatten, oder?"
"Ja, die wurde manchmal für illegal erklärt, dann wieder für ungesetzlich und später wurde das dann als Plattformbildung, ließ man uns wissen: es sei eine pazifistische Plattformbildung."
"Was ist denn mit der Unterschriftenliste passiert?"
"Ja, der Direktor bekam also Angst, wir könnten die missbrauchen, womöglich habe ich mir so gedacht, im Westen oder so, und das wollten wir natürlich auch nicht. Die ging ja letztlich an die Adresse, wo sie auch hin gerichtet war, nach oben. Der wollte die also ausgehändigt haben."
"Wer, der Direktor?"
"Der Direktor, ja ja. Und für mich war das auch so eine kleine Vertrauensbezeugung ihm gegenüber. Er versprach damals, dass keinem Unterzeichner Nachteile entstehen."
"Und da habe ich unterschrieben, weil ich dachte, dass die dann eben ans Ministerium oder so gesandt wird. Und weil ich das richtig fand. Und weil ich damit einfach bekunden wollte, dass ich eben auch der Meinung bin, dass das nicht mehr notwendig ist.
"Zu der Zuspitzung kam es, als wir an einem Mittwoch dem – ach, ich weiß es nicht mehr – ein Gedicht anbrachten. Eine Lobeshymne auf eine Kalaschnikow MP. Dieses Ding liest sich wie ein Liebesgedicht: Lag ich bei dir zur Mondesnacht dein Anblick mich ganz sicher macht usw., und zum Schluss kommt halt: Ich weiß warum, ich kenne dein wie, du Kalaschnikow MP, und da wurde es allerdings böse an der Stelle, weil wir da ironisch wurden, in unseren Äußerungen. Wir haben also darüber geschrieben: Ein Gedicht, das uns sehr beeindruckt und zum Nachdenken angeregt hat. Ein typischer Satz aus Schüler-Aufsätzen und da waren sie dann sehr sauer. Und dann wurden wir am nächsten Tag zu Verhören ins Sekretariat des Direktors geholt. Ich sage Verhör, weil es war nichts anderes."
"Was wurde Ihnen da vorgeworfen bei diesen Verhören?"
"Erst mal wurde mir nichts vorgeworfen. Wir wurden geprüft, also unsere Gesinnung wurde geprüft. Mir wurden solche Fragen gestellt wie: Wie stehst du zur DDR, was willst du verändert haben? Man muss dazu wissen, dass da drei Leute dabeisaßen, die ich nicht kannte Parteisekretärin, Direktor, Klassenlehrer, zwei GOL-Menschen, also Grundorganisationsleitung der Schule und dass mir solche Fragen gestellt wurden, und ich naja, was soll man auf solche Fragen antworten? Also ich konnte nur sagen, ich will bestimmte Veränderungen, aber jedes Wort konnte mir im Munde herumgedreht werden und auch später gegen mich verwandt werden, was dann ja auch passiert ist.
Ich durfte die Protokolle später nicht einsehen, wie keiner."
"Dieses Gespräch, ich sage Gespräch in Anführungsstrichen, fand in einer, man kann sagen, eisigen Atmosphäre statt. Es wurden von Leuten, wie gesagt, die uns nicht vorgestellt wurden, auch Fragen gestellt, die uns provozieren sollten. Ich weiß nicht, inwiefern es den einen oder anderen wirklich provoziert hat. Es wurden mir unter anderem auch die Frage gestellt, ob ich nicht sowieso in den Westen wolle usw. und so fort. Die Tatsache, dass wir jetzt hier alle sitzen und Philipp aus Gründen, die wir nachher noch nennen werden, nicht. Das zeigt eigentlich, wie absurd die Vorwürfe waren, die unter anderem damals gekommen sind."
"Es war wirklich eine Situation, wo man sich völlig in die Enge gedrängt fühlte und vielleicht sich auch – also ich zumindest – zu sogenannten Aussagen provoziert fühlte, die ich vielleicht nie gemacht hätte sonst. Also nicht so zugespitzt."
"Sagen Sie mal eine von denen, damit die Zuschauer wissen, wovon die Rede ist!"
"Na, das ist dann mir später vorgeworfen worden oder gesagt worden, dass ich gesagt hätte, dass ich nur Freunde hätte, die ausreisen wollten oder nur mit solchen Leuten zu tun hätte. Und das habe ich in der Art und Weise eigentlich nicht gesagt. Also, ich habe gesagt, man hat mich gefragt, woher ich Probleme von Ausreisenden kenne. Und da habe ich gesagt: Na ja, ich habe halt Freunde, die auch ausreisen wollen und so.“
An diesem Tisch im Dienstzimmer des Direktors fanden sie statt, die – laut Schulakte – vertrauensvollen Gespräche. Hier versuchten Schulinspektoren, Vertreter der FDJ-Leitung und der Direktor, die Gründe festzumachen für den ersten Schritt: Ausschluss aus der FDJ.
"Wie war denn das in Ihrer Klasse?"
"Da war so eine FDJ Ausschlusssitzung und da waren dann auch Vertreter der GOL da und auch vom Zentralrat war jemand, und da wurde dann aus diesen sogenannten Protokollen zitiert, was wir da gesagt hätten. Und es wurde der Antrag gestellt, dass wir aus der FDJ ausgeschlossen werden und dazu brauchen sie aber eine Zweidrittelmehrheit. Und dann sollten sich die Schüler äußern und ihr Stimmzeichen geben. Vorher hat man uns dann noch Fragen gestellt, also wie wir dazu stehen und so und uns wurde aber auch nicht die Möglichkeit gegeben, sofort auf die Beschuldigungen, die da aus den Protokollen kamen, zu reagieren. Es wurde weitergeredet und wenn wir uns mal gemeldet haben, sind wir nach längerer Zeit erst rangekommen und konnten so auch überhaupt nicht schnell reagieren. Und dann wurde halt abgestimmt. Und da hat zum Beispiel auch eine Schülerin aus meiner Klasse gesagt, dass sie sich überhaupt nicht in der Lage fühlt, hier ja oder nein zu sagen, weil sie viel zu wenig weiß und lieber noch mal mit uns sprechen würde und beide Seiten beleuchtet haben möchte. Und da hat aber der vom Zentralrat gesagt: Wir wollen eine schnelle Entscheidung und sie müssen jetzt ja oder nein sagen."
"Und wie ging es aus?"
"Na, ein paar Gegenstimmen hatten wir, aber wir sind beide ausgeschlossen worden."
"Kai, Sie waren der andere, in der 7. Klasse?"
"Ja."
"Sie wollen doch alle ein Abitur machen", sagte der Direktor. Und jetzt hier können Sie an Ort und Stelle mal Ihren Standpunkt zeigen und können unter Beweis stellen, dass Sie würdig sind, guter Staatsbürger…, und so in dieser Richtung. Und da sind die natürlich…"
"Dazu sagen muss man auch: Wir waren ja gerade erst zusammengekommen und da war auch noch nicht dieser Zusammenhalt wie eben bei Benjamin oder bei Genia in der Klasse. und da haben die meisten wahrscheinlich doch in ihrem Hinterköpfchen gehabt: Wir wollen auch unser Abitur ordentlich zu Ende machen, also ordentlich in Anführungsstrichen und ohne irgendwelche Benachteiligungen."
"Benjamin, Sie wurden auch ausgeschlossen, waren aber schon in der zwölften Klasse, oder wie war das?"
"Ich wurde nicht ausgeschlossen. Bei mir haben sie diese Zweidrittelmehrheit, die notwendige, auch nicht zustande bekommen. Also es haben sich einige Schüler gewehrt dagegen, also für so etwas verwarnt zu werden, für diesen Ausschluss, ihre Stimme abzugeben. Und zwar, na ja, richtig Haltung bezogen hat eigentlich nur ein Mädchen, und das habe ich auch akzeptiert, weil die Leute waren wirklich in persönlicher Not in dem Augenblick. Wenn da zehn Leute, die nicht zur Klasse gehören, sitzen, über FDJ-Kreisleitung bis zum Direktor und Klassenlehrerin, dass man das man dort vielleicht nicht unbedingt nicht jeder den Mut aufbringt."
"Es sollte sicherlich eine Scheinlegitimation für den Schulausschluss sein, denn FDJ und Schule ist ja bis zum heutigen Tag wird er als fast identisch gehalten. Das ist wahrscheinlich das Skandalöseste an diesem ganzen Vorfall, ist also selbst die bestehenden, für meine Begriffe auch nicht legitimen Gesetze, dass man also Schüler für Meinungen bestrafen kann usw., überschritten wurden, Kompetenzbereiche überschritten wurden. Ich kann es auch einfach Machtmissbrauch nennen, dass gewissermaßen die Sache nicht von unten nach oben aufgebaut wurde, so wie es immer dargestellt wurde, sondern von oben nach unten. Die Unterschrift unter die vollstreckten Urteile stand, bevor überhaupt die Verfahren eingeleitet wurden. Das ist Fakt."
"Woher wissen Sie das?"
"Ja, das wissen wir von einem, der im Zentralrat der FDJ mitarbeitete und dort wurde zwei Tage zuvor, mit Name und Adresse bekannt gegeben, wer von der Schule geflogen ist."
"Man hat uns erzählt, dass die Relegierung schon beschlossen war höheren Orts, bevor sie überhaupt an der Schule vorgehabt war. Können Sie das eigentlich bestätigen?"
"Ja, da bin ich, glaube ich, lebender Beweis. Die Schüler waren geschlossen bei mir, als noch in der Schule davon die Rede war und auch in Elterngesprächen, dass eine Relegierung nicht in Frage kommt. Am nächsten Tag bin ich in den Zentralrat der FDJ und habe versucht, mit Eberhard Aurich ein Gespräch zu führen. Der Eberhard Aurich war derzeit in Bulgarien. Dann habe ich mich an die Bezirksleitung der FDJ gewandt. Dort war eine Krisensitzung einberufen wegen der Schüler an der Carl von Ossietzky Oberschule. An diesem Gespräch nahmen teil: der zweite Sekretär der FDJ-Bezirksleitung, den es heute in dem Posten nicht mehr gibt, und der Erste Sekretär der FDJ-Bezirksleitung Helmut Meyer, der heute noch in Amt und Würden ist. Und später kam der zweite Sekretär des Zentralrates der FDJ dazu, Volker Vogt, der auch heute nicht mehr Zweiter Sekretär ist, leider. Wir sprachen über die Vorgänge, wir sprachen darüber, wer welche Informationen hat, und ich bat darum, dass die Schüler weder relegiert werden noch von der FDJ ausgeschlossen werden, wenn sie nicht selber den Rückzug aus der FDJ beantragen. Daraufhin versuchte man also, beide Dinge voneinander zu trennen und sagte, dass die Relegierungen schon unterschrieben sind von der damaligen Volksbildungsministerin Margot Honecker und dass es hier nur noch darum ging, dass man einen Vorlauf schafft als FDJ und dass man die Schüler, also bevor die Relegierung dann ausgesprochen werden, öffentlich aus der FDJ ausschließt."
"Sie drei waren also Klassenlehrer von solchen Klassen…?"
Um das aber durchzusetzen, brauchte man die Hilfe der Klassenlehrer. Sechs Schüler hatte man inzwischen als antisozialistische Plattform im Blauhemd ermittelt.
"Frau Lange, wie war das damals in Ihrer Klasse?"
"Wir hatten also eine Inspektion im Haus. Ich wurde dann eines Tages, als ich Unterrichtsschluss hatte, ins Direktorzimmer geholt. Dort saßen viele Leute herum, vom Magistrat. Zwei Inspektoren saßen an der Seite. Zum Mitschreiben. Eine Dame, die zum Direktor sagte: Ich werde nicht vorgestellt, saß mit am Tisch."
"Wissen Sie, wer das war?"
"Ich weiß, dass das Frau Dr. Heidamke war. Und der Direktor sagte: Wir wollen die Schüler jetzt befragen und die Dinge klären, wofür ich sehr war, dass wir ausdiskutieren. Und ich habe dieses Gespräch auch mitgeführt unter dem Gesichtspunkt, erzieherisch Einfluss zu nehmen auf die Schüler und mich allerdings gewundert, dass diese Frau Dr. Heidamke immer stärker die führende Rolle übernahm und das fast in ein Verhör ausartete, so dass also die Katja zum Beispiel in Tränen ausbrach, ich mit ihr rausging und noch zu ihr sagte: Na Katja, wenn man das jetzt alles so auf den Tisch legen, wie es war und so, und mir dann eigentlich erst im Nachhinein klar wurde, als die ganze Sache dann ins Rollen kam und auch die Relegierung ausgesprochen war, dass diese Gespräche nur benutzt wurden, um Aussagen von den Schülern…, also es ging nicht um den erzieherischen Prozess, nicht um die Einwirkung, sondern darum, Material zu haben, was man gegen sie ins Feld führen konnte. Das haben wir aber, glaube ich, damals alle nicht bemerkt. Und gerade diese Inspektorin hat dann also für meine Begriffe eine sehr unrühmliche Rolle weitergespielt. Ich habe sie im Kollegenkreis immer Beria genannt, weil sie in dieser Weise auf mich wirkte, völlig gefühlskalt und doch einschüchternd, ja, ein Symbol der Macht, im Prinzip."
"Ich glaube, hätten wir diese Inspektion nicht gehabt, hätten wir diese Probleme auf unsere Art und Weise gelöst. So wie es schon immer erfolgreich gemacht haben, eigentlich."
"Wir sind also relativ selten zusammen vorgeladen worden. Wir beide können das nur in einem Fall auch gegenseitig bestätigen. Da ging es um die Vorbereitung der FDJ-Versammlung. Es ging auch von einer Stunde zur anderen. Und sie sagte, also: Welche Strategien habt ihr entwickelt? Daraufhin sagte ich: Meine Strategie besteht darin, dass ich zu meinen Schülern ehrlich bin. Daraufhin guckte sie mich an wie ein ungeputztes Fenster und sagte: Ich erwarte von dir, dass du heute Abend die Schüler dazu bringst, dass sie den FDJ-Ausschluss schließen, da habe ich gesagt: Das mache ich nicht. Und daraufhin schrie sie über den Tisch, obwohl ich weder Genosse bin, noch jemals mit ihr Bruderschaft getrunken habe. Ich warne dich. Und wenn du heute Abend nicht zu dem Ergebnis kommst… Und war ich meinerseits in dieser Situation eigentlich bereit, auch über den Tisch zu springen, weil mir so was noch nicht begegnet war. Der Direktor hat dann schlichtend eingegriffen und gesagt Frau Lange wird das schon pädagogisch lösen, die Frage. Aber auch zu diesem Zeitpunkt haben wir noch nicht gewusst, dass der FDJ-Ausschluss eigentlich nur eine scheinbar demokratische Legitimation der Relegierung sein sollte."
"Also auch auf mich, die ich nur zum Protokoll…, zum Protokollanten erklärt wurde, also auf mich auch einen derartigen, ich kann es gar nicht…. Angst ausübte. Und ich glaube, dass diese psychologische Wirkung auch auf die Schüler eingewirkt hat und sie sicherlich dadurch noch zu viel stärkerer Emotionalität hingerissen wurden und nicht mehr sachlich bestimmte Dinge geklärt haben. Ich glaube, dieses ganze Klima, das sicher eskalierte, von Tag zu Tag immer ein Stückchen weiter."
"Und Sie stellen natürlich die berechtigte Frage: Was haben wir als Lehrer dagegen gemacht? Ich muss ganz ehrlich sagen, ich bin Genosse seit einem Jahr und man hat ja auch ein gewisses Vertrauen zu seinen Vorgesetzten. Und man ist ja auch ein denkender Mensch. Man hat auch in diesem Zuge dieser ganzen Prozesse irgendwie ein schlechtes Gewissen bekommen. Man hat langsam gezweifelt, ob das wirklich noch diesen ganzen legalen Weg…, dieser legale Weg eingehalten wird. Und im Nachhinein lässt sich das natürlich immer sehr leicht wieder rückkoppeln und dann kann man seine Erfahrung daraus ziehen. Aber eins möchte ich ganz deutlich sagen: So etwas darf nie wieder passieren. Denn diese Vertreter aus der Volksbildung waren weg. Wir mussten mit den Schülern arbeiten. Und mein Vertrauen ist futsch, bei vielen Schülern."
"Da oben sitzen Leute, die gewohnt sind, das durchzu…, ich möchte mal sagen durchzupeitschen, was von ihnen verlangt wird. Oft kritiklos und bedenkenlos. Sie haben eine gewisse Macht und wir sind alle von ihnen abhängig. Und ich glaube, ein System, würde ich sagen. Ich will das dem Einzelnen nicht jetzt anlasten, dem Einzelnen, wie man im Russischen sagt: Apparatschik. Ich meine, ein System ist unmoralisch, das einen Lehrer oder einen Direktor zwingt, bei Strafe des beruflichen Abstiegs oder doch der Verwehrung des beruflichen Aufstiegs, sich in so manchen unehrenhaften Handel einzulassen."
Das ist die Aula der Ossietzky Oberschule. Es war Freitag, der 30. September 1988.
"Wir sind schon in dem Wissen zur Schule gegangen: Es würde unser letzter Tag sein. Und doch war es dann einfach so überwältigend und für uns selbst überraschend, dann wenige Stunden später auf der Straße zu stehen, ohne irgendwas in der Hand zu haben. Wir wurden also ohne Ankündigung zu einer Schülervollversammlung einberufen, in die Aula. Dort stellten sich also alle, wie zum Appell üblich, hufeisenförmig auf. Der Direktor trat vor, in die Mitte, verlas die Anklageschrift. Angriffe gegen die sozialistische Gesetzlichkeit, staatsfeindliche Aktivitäten, antisozialistisches Verhalten usw. Und holte dann einen Schüler nach dem anderen vor, der sich vor die versammelte Mannschaft stellen musste, möglichst mit gesenktem Haupt und dann an allen vorüberziehen musste, durch den Ausgang der Aula, raus auf die Straße. Also ganz offensichtlich sicherlich zur Abschreckung gedacht, sicherlich aber ganz anders dann gewirkt. Für mich war das so: Ich hatte unbedingt das Bedürfnis noch, mich an die Schüler zu wenden und mich zu erklären. Vor allem gegen diese Vorwürfe, die in dieser Schärfe nie vorgetragen wurden und auch später nicht mehr so vorkamen. Und der Direktor, der war nicht mal in der Lage, mir in die Augen zu sehen, verwehrte mir nur das Wort und zeigte stereotyp mit der Hand auf die Tür. Und nachdem ich dann doch anfing zu reden, kamen sogar noch zwei FDJler, die mich dann da raus führten."
"Nachdem Kai hinausgeschickt wurde und auch Katja dann gegangen war, trat dann eine Schülerin aus ihrer Klasse vor und die sagte, dass sie das mit dem FDJ-Ausschluss nicht so gewollt hätten, ja, dass diese Relegierung erfolgt und dass sie sich jetzt dafür schämt, und sie weinte halt, und Beifall in der Aula und in diesem Beifall hinein, spricht Herr Forner entsprechend weiter und ruft die nächsten auf. Dann wurde als nächster Alexander nach vorne geholt, und ihm wurde bloß ein Verweis erteilt und er sollte sich wieder ins Klassenkollektiv einreihen. Daraufhin sagte Alexander, dass er sich für diese Schule schämt. Und Herr Forner reagierte dann so, dass er sagte: Wenn Sie sich für diese Schule schämen, für sie ist auch die Tür da vorne. Und dann wurde ich nach vorne gerufen und mir wurde mitgeteilt, dass man mich umschulen würde und dass ich bis 14:00 Uhr an diesem Tage den Unterricht noch zu besuchen hätte und mich am nächsten Morgen dann in der Max Planck EOS zu melden hätte. Mir wurde außerdem noch ein strenger Verweis erteilt, und daraufhin habe ich dann auch das Schulgebäude verlassen."
"Ich glaube, dass vieles von dem, was in den jungen Menschen in jahrelanger Kleinarbeit an Überzeugungsarbeit entstanden war, in diesem Augenblick zusammenbrechen musste. Die Schule musste ihnen als etwas Ungerechtes, Feindliches erscheinen. Denn eins war ja klar: Hier wurde ein Exempel statuiert."
"Ich erinnere mich an den Tag, an dem dieser fürchterliche Appell stattfand, ging ich danach in eine zwölfte Klasse, und ich saß vorne und sagte: Wir dürfen jetzt nicht so tun, als wäre nichts passiert. Und dann heulte ich, und dann weinte ein Teil der Schüler, und wir waren uns in unserer Hilflosigkeit und Ohnmacht eigentlich so nahe auch, dass das eigentlich irgendwo schon wieder ein neuer Anfang war. Und wir begannen dann ganz langsam darüber zu sprechen, was eigentlich passiert war. Das hatte so ein bisschen den Effekt einer Gruppentherapie, oder? Ich weiß nicht, wie man das nennen will."
„Wir gingen erschüttert, wie gelähmt in unsere Klassen. Aber die Ordnung war wiederhergestellt. Es herrschte Ruhe an unserer Schule. Es war gewissermaßen ein himmlischer Friede bei uns eingekehrt. Als ich am nächsten Tage meine Empörung gegen diesen pädagogischen Vandalismus zum Ausdruck brachte, wurde mir gesagt: Das sei der Klassenkampf. Gut. Wenn wir wirklich schon annehmen sollen, dass an diesem Tage sich Staatsfeinde und Klassengegner in der Aula unserer Schule befunden haben. Dann waren sie wohl nicht unter den Schülern zu suchen, würde ich sagen."
Erinnern wir uns. Schüler hatten an einer dafür vorgesehenen Wandzeitung diskutiert, hatten ihre Meinung gesagt und verteidigt. Und nun das Erbe?
"Was hätte ihnen denn damals passieren können, wenn sie sich geweigert hätten, das Verfahren so durchzuführen, wie es Ihnen angeraten wurde?"
"Die Frage habe ich mir, glaube ich, in den vergangenen 12 Monaten einige 100 Mal vorgelegt. Ich weiß es nicht. Ich kann nur spekulieren."
"Ja, was hätte passieren können?"
"Es hätte vielleicht passieren können, dass man den Direktor der Schule abberuft, jemand anders an seine Stelle setzt, der die Prozesse genauso führt. Es hätte passieren können, dass ich von selbst meine Funktionen niederlege und sage: Ich mache da nicht mit. Es hätte möglicherweise die gleiche Folge gehabt. Aber ich kann das nur so spekulativ sagen. Ich hatte auch versuchen können, die Schule in den Kampf zu führen. Ein Direktor einer Erweiterten Oberschule, der einen komplizierten Auftrag hat, 160 Schüler zum Abitur zu führen, allein gegen das Ministerium für Volksbildung. Was steht da auf dem Spiel?"
Erst nach einem Jahr: Versuche einer Aufklärung. Am 1. November über ADN, eine Erklärung der Stadtschulrätin, die aber die alte Position verteidigt. Zitat: "Die Schüler waren in einer Art und Weise beteiligt, die unakzeptabel gewesen sei. Es sei damals die einzige Möglichkeit gewesen, den normalen Schulablauf zu gewährleisten." Schuld hat also danach die Schule. Deshalb wird Direktor Forner nun deutlicher. Zitat: "Entgegen dem Vorhaben der Schule, die herangereiften Probleme im Erziehungsprozess behutsam und langfristig zu lösen, wurden wir ab 20. September 88 durch die Abteilung Volksbildung des Magistrats der Hauptstadt angewiesen, die Situation zuzuspitzen und Entscheidungen zu beschleunigen."
"Ich bin selbst zweimal ins Ministerium für Volksbildung eingeladen worden. Ich erinnere mich, dass an den Beratungen dort teilgenommen haben: Der Staatssekretär Lorenz, die Frau Heidamke. die Herta Otto, die damals Bezirksschulrat der Hauptstadt war. Meine Bezirks…, Meine Stadt-Bezirksschulrätin, Frau Dr. Voss und ich. Es waren noch mehr da. Ich kannte nicht alle. Und wir erhielten dann vom Staatssekretär Lorenz und den Mitarbeitern, nachdem ich die Gelegenheit hatte, über die Lage an der Schule zu sprechen, die ausdrückliche Weisung, die Situation weiter zuzuspitzen, um den Entscheidungsprozess zu ermöglichen."
Zitat: "Ich erlebe jetzt, wie sich die damals für die Entscheidungen an meiner Schule verantwortlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Volksbildung einer nach dem anderen aus der Verantwortung ziehen wollen.
"Dazu möchte ich sagen, dass der Appell, an dem ich teilgenommen habe und der mich betroffen machende, Wirkungen auf die Schüler hatte, nicht von mir veranlasst worden ist. Weder, dass er stattfindet, noch auf welche Art und Weise."
"Ich glaube, wenn man etwas in Richtung Sozialismus probieren will, dann braucht es unbedingt demokratische Kontrollmechanismen, die so eine Sache verhindern können. Es muss freie Meinungsbildung geben und nichts anderes war dieser Versuch von uns."
"Haben Sie einen Knacks erlitten? In Ihren Ansichten?"
„Na ja, so kann ich das nicht sagen. Aber es hat schon irgendwie die Lebensperspektive verengt. Diese Aussicht. Wir konnten ja nicht absehen, was es heute, im Herbst 89, für eine Situation gibt. Die Aussicht, eventuell nie mehr Abitur machen zu können."
"Bei mir war das so, dass diese ganze Sache bei mir einen totalen Zusammenbruch ausgelöst hat. Also in jeder Hinsicht. Und ich kann nicht sagen, dass eine bis dahin vorhandene Meinung oder Haltung von mir bestärkt wurde oder relativiert wurde oder so, sondern bis dahin war ich wirklich sehr naiv und möchte jetzt mal sagen und habe im Prinzip nur das Gute gesehen. Oder Wie gesagt, die Sache an sich ist wirklich gut und so und hier und da, die kleinen Mängel sind halt da, aber es wird schon noch und so und in dem Moment war es für mich so, als ob auf einmal dieses Ganze ganz offen vor mir liegt, dieses ganze System, die Praktiken und alles. Und zu dem Zeitpunkt habe ich mir sehr viele Gedanken darüber gemacht und da ist mir klar geworden, dass natürlich jetzt die westliche Gesellschaft, also der Kapitalismus, keine Alternative ist zu dem hier bestehenden, aber umgedreht auch nicht."
"Also ich glaube nicht, dass meine politischen Auffassungen dadurch sich geändert haben. Vielmehr wird das Auswirkungen haben auf meinem ganzen Lebensweg, meine Biographie. Das ist heute noch gar nicht abzusehen, was das für Folgen haben wird. Ich meine… ich habe eigentlich nie zuvor darüber nachgedacht, auch ohne Abitur zu leben. Und das hat mich hinterher richtig erschrocken, dass ich da ernsthafte Schwierigkeiten hatte, mich damit abzufinden. Ich habe begriffen, dass dieser Konflikt zwischen diesem Schulsystem und mir bestand und dass der nur so hätte gelöst werden können, denn andernfalls hätte sich die Schule ändern müssen und dazu war sie nicht in der Lage. Also musste ich da irgendwie raus und musste mich außerhalb des Systems entwickeln. Das war auch ein Gefühl der Freiheit, aber es war eine sehr beklemmende Freiheit, muss ich sagen."
"Guten Abend, spreche ich mit Philipp Lengsfeld?"
"Ja."
"Ja. Guten Abend."
„Sagen Sie, Philipp, von wo sprechen Sie denn eigentlich?"
„Ich spreche aus Cambridge. Aus Großbritannien."
"Ja. Sagen Sie, Ihre Freunde haben uns gestern bei den Aufnahmen erzählt: Sie hätten eigentlich Lust, in die DDR zurückzukommen. Stimmt denn das? "
"Ja, wissen Sie, ich wäre gar nicht nach England gefahren, wenn ich nicht aus der Carl von Ossietzky Oberschule rausgeflogen wäre. Und insofern, wenn ich wieder die Erlaubnis bekomme, zurückzukommen, würde ich auch sofort wieder in die DDR zurückfahren."
"Ja, also, wenn Sie die Zusage hätten, habe ich das recht verstanden, dass Sie Abi nachmachen können, ja?"
"Ja.“
"Ja. Sagen Sie, was würden Sie denn studieren wollen, wenn Sie das Abi dann haben?"
„Also mein Wunsch war eigentlich immer, Geschichte zu studieren. Und zuerst dachte ich, ich will Lehrer werden. Aber ich würde, wenn es möglich ist, eigentlich lieber Geschichte schreiben. Und da jetzt die Zeit anbricht, wo man die Geschichte der DDR noch mal neu schreiben müsste, würde ich mich vielleicht für diese Arbeit interessieren. "
"Ja, das ist natürlich sehr interessant. "
"Sagen Sie doch bitte: Was wäre für Sie Wiedergutmachung in Ihrem Fall?“
"Die Hintergründe müssen aufgedeckt werden. Es muss ganz klar zutage treten: Wo? Von wo das inszeniert wurde. Und jeder, der in dieser Richtung tätig ist, tut uns wahnsinnig viel Gutes. Und vor allem, es kann natürlich auch nur so verhindert werden, dass so was noch mal passiert. "
"Ich weiß nicht, ob man, ob man sowas aus dem Gedächtnis streichen kann, sicherlich nicht. Man sollte bloß diese Sache – und das ist ja noch eine relativ harmlose Sache – diese weißen Flecken, die wir auch in unserer Geschichte haben. Solche Sachen sollte man aufarbeiten. "
"Erst mal müssten wir rehabilitiert werden und auch so, dass wir das erfahren und nicht nur irgendwann mal in der Zeitung steht. Aber ansonsten Wiedergutmachung. Also das ist bei mir nicht möglich, glaube ich. "
"Ja. Katja?"
"Ich glaube, es ist bei mir auch so, zumindest die moralische Wiedergutmachung. Also was wir in diesem einen Jahr durchgemacht haben, an Krisen, das kann man einfach nicht wieder gut machen. Also im Prinzip sind da ja wirklich Welten zusammengestürzt und es hat auch ziemlich lange gedauert, bis man da irgendwie wieder hochgekommen ist. Und ich glaube, wie Kai das gesagt hat, das wird auch uns unser ganzes Leben irgendwie begleiten. "
"Dass sie die Möglichkeit kriegen, sogar soweit sie kein Abitur haben, dieses zu machen, in Form von Abendschule, EOS oder wie auch immer. Und dass die Verantwortlichen bestraft werden. "
"Von einem wirklichen Sozialismus bin ich damals überzeugt gewesen, bin es heute und werde es auch weiterhin sein. Das sind wir alle. Sonst würden wir nicht hier sitzen. Und Perspektive für mich: Es ist nicht der Westen und das muss man mal sagen, im Gegensatz zu vielen Leuten, die ganz gut durch diese Mühle Volksbildung gekommen sind, die, was weiß ich, vielleicht, die Abitur mit Auszeichnung gemacht haben, die jetzt weg sind, sind wir hier und wir werden auch hier bleiben, egal ob es einigen Leuten passt oder nicht, weil es auch unser Land ist. "
"Aber wenn es gelingt, unseren Fall, so aufzuarbeiten, dass es dazu führt, dass die volle Souveränität einer Volksbildungseinrichtung wie einer Erweiterten Oberschule gesichert wird, dass es dazu führt, dass niemand in die Belange eines Pädagogenkollektivs von außen hineinregieren kann, wer auch immer. Wenn es dazu führt, dass die vielen mündigen, einsatzbereiten, gut ausgebildeten Lehrer, ihre Vorstellungen über Erziehung ausprobieren können, man sie gewähren lässt. Mithin also auch der Begriff Pädagogisches Risiko wieder Sinn bekommt: Ich glaube, das wäre eine gesellschaftliche Wiedergutmachung. "
"Eine ganz wichtige Sache ist, dass die Obrigkeit, die pädagogische Obrigkeit, für uns da sein muss und nicht wir für sie. Dass sie uns helfen müssen und nicht wir quasi ihre, das was sie wollen, erfüllen müssen. Und genauso glaube ich auch, dass die Lehrer da sein müssen, für die Schüler. Und nicht die Schüler für die Lehrer. Das scheint mir eine ganz wichtige Sache zu sein. Also die Forderungen, die wir stellen, an die Schüler, müssen ausgehen, in starkem Maße von ihren Interessen auch, und nicht nur von einem Plan, den wir erfüllen müssen, von bestimmten Erziehungsplänen, die wir uns da im Vorfeld machen. Sondern, ich glaube, wir müssen einfach den Schüler mehr in den Mittelpunkt rücken. "
Die persönliche Rehabilitierung der Schüler steht noch aus. Der verantwortliche Staatssekretär Lorenz, wurde abgelöst.