Kai Feller, Erklärung der IFM zu den Vorfällen an der Ossietzky-Schule, RG-B_00001_1 88
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Abschrift:
Berlin, den 29.10.88Erklärung der Initiative Frieden und Menschenrechte
„Der Anspruch eines Erziehungs- und Bildungssystems sollte die Erziehung zu allseitig entwickelten, demokratiefähigen und mündigen Bürgern sein. Die Jugend- und Bildungspolitik in der DDR erhebt für mich diesen Anspruch, kann ihm aber in der Praxis nicht gerecht werden…“
(Aus der Eingabe an den XI. Parteitag der SED vom 2.4.86)
Wegen der Wahrnehmung ihres Rechtes auf freie Meinungsäußerung wurden bis jetzt vier Schüler der EOS „Carl v. Ossietzky“ in Berlin relegiert. Es gab außerdem Zwangsumschulungen, Verweise und massiven Druck auf sich solidarisierende Schüler, Eltern und Freunde. Weitere Relegierungen sind angedroht worden. Diese Schüler haben sich, z.B. durch Wandzeitungsartikel zur Situation in Polen und zu den Militärparaden am 7. Oktober sowie durch die Teilnahme an einer offiziellen Demonstration mit eigenen Transparenten („Gegen faschistische Tendenzen“, „Neonazis raus“) mit Problemen auseinandergesetzt, die dringend einer öffentlichen Diskussion bedürfen.
Wir fordern die sofortige Rücknahme der Relegierungen, Zwangsumschulungen und anderen Schulstrafen. Mit diesem Vorgehen des Machtapparates wird der Anpassungsdruck auf Kinder und Jugendliche an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen verstärkt und eine kritiklose und passive Haltung gegenüber gesellschaftlichen und politischen Problemen erzeugt.
Es ist unverantwortlich, daß die persönliche und berufliche Zukunft von Jugendlichen einem Verfügungsanspruch über Menschen geopfert wird. Das Ministerium für Volksbildung spielt durch seine nahezu ausschließliche Zuständigkeit für den gesamten Bereich von Erziehung und Bildung eine besondere Rolle in der DDR. Seine Erziehungs- und Bildungsmethoden sind noch von den alten Denkmustern der 50iger Jahre geprägt. Diese rückständige und dogmatische Politik ist eine wesentliche Ursache für den weitverbreiteten Rückzug in ausschließlich private Lebensbereiche und Konsum. Aber sie führt auch zu einer starken Resignation bei viele Jugendlichen, die sich u.a. in vermehrten Ausreiseanträgen, Fluchtversuchen, verstärktem Alkoholmißbrauch, Jugendkriminalität und nicht zuletzt zunehmenden neonazistischen Aktivitäten äußert.
Angesichts dieser Konsequenzen ist es dringend geboten, sich einer solchen Politik zu widersetzen. Bildung und Erziehung dürfen nicht auf ein einseitiges, weltanschauliches, partei- oder regierungskonformes Konzept verpflichtet sein. Demgemäß darf das Recht auf Bildung nicht vom politischen Wohlverhalten abhängig gemacht werden.