Kai Feller
Das Schuljahr 1988/89 an der Erweiterten Oberschule (EOS) „Carl von Ossietzky“ im Ostberliner Stadtbezirk Pankow beginnt für Kai Feller (16) mit politischer Indoktrination. Bei der offiziellen Begrüßung durch den Schulleiter verlangt dieser von den Schülerinnen und Schülern absolute Loyalität gegenüber der Partei und dem Staat. Im Vordergrund steht nicht die Entwicklung der Jugendlichen zu selbstständig denkenden Individuen, sondern zu sozialistischen „Kadern“.
In der ersten Unterrichtsstunde stellt die neue Lehrerin klar, wer die Gegner der sozialistischen Gesellschaft sind. Sie verurteilt den tödlichen Unfall während der Flugshow auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im westdeutschen Ramstein als Militarismus der hochgerüsteten Bundesrepublik. Kai Feller ist verwundert und hinterfragt für sich die Ausführungen der Lehrerin: Finden nicht zum Republikgeburtstag am 7. Oktober ähnliche Vorführungen des Militärs der DDR statt? An diesem Tag fahren jedes Jahr Panzer durch die Stadt und die neueste Wehrtechnik wird präsentiert. In offiziellen Verlautbarungen sprechen Vertreter des SED-Regimes aber von der DDR als Friedensstaat, der durch den militaristischen Westen bedroht sei.
Die Schüler und Schülerinnen diskutieren intensiv und Kai Feller beschließt die Debatte öffentlich in der Schule weiterzuführen. In der Schule gibt es eine so genannte Speakers‘ Corner – eine Litfaßsäule als Wandzeitung, an der die Schülerinnen und Schüler ihre Gedanken und Wünsche äußern können. Damit, dass sie für Fundamentalkritik am sozialistischen System genutzt wird, hat die Schulleitung vermutlich nicht gerechnet.
„Ich dachte vielleicht können wir etwas bewirken“
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Kai Feller hängt ein Plakat an die Speakers‘ Corner, auf dem er einen Verzicht auf die Militärparade am bevorstehenden 7. Oktober befürwortet. Bewusst lässt er Platz für die Kommentare seiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Die vielen Kommentare, die sich später unter dem Aufruf finden, animieren Kai Feller noch einen Schritt weiter zu gehen. Er initiiert eine Unterschriftensammlung und ruft seine Mitschülerinnen und Mitschüler zum Unterzeichnen auf. Sein Ziel ist ein Aufruf an die Staatsführung, der die Regierung mit den Gedanken aus der jungen Generation konfrontiert. Knapp 40 Schülerinnen und Schüler unterschreiben den Appell.
Die Aktion von Kai Feller ist nicht die einzige. Schon vorher hatten zwei Schüler die Solidarność -Bewegung thematisiert und im Laufe des Septembers 1988 finden an der EOS weitere Aktionen statt, bei denen öffentlich die Regierung der DDR kritisiert wird. Auch andere fühlen sich ermutigt, ihre Meinungen in Artikeln, die nicht den Standpunkt anderer verteufeln, sondern zur Diskussion und zum Nachdenken anregen sollen, an der Speakers' Corner kund zu tun. Die Schülerinnen und Schüler diskutieren öffentlich. Ein solcher Austausch war zuvor nicht vorstellbar. Für kurze Zeit herrscht an der Schule so etwas wie Meinungsfreiheit – als hätten auch in der DDR, in der Berliner Carl-von-Ossietzky-Schule, „Glasnost“ und „Perestroika“ Einzug gehalten.
Doch die Zeit der neu gewonnenen Freiheit ist nur von kurzer Dauer. Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern werden unter Druck gesetzt und gezwungen, die Unterschriften der Jugendlichen unter Kai Fellers Aufruf zurück zu ziehen. Acht mutige Schülerinnen und Schüler bleiben bei ihrer Meinungsbekundung und wollen ihre Unterschrift nicht zurücknehmen.
Das „Tribunal“ in der Aula
Sie werden in einer demütigenden tribunalähnlichen Schulversammlung vor dem gesamten Lehrkörper und vor allen anderen Schülerinnen und Schülern in der Aula abgestraft. Die Botschaft ist eindeutig: Wer sich künftig traut, seine eigenen Meinung zu sagen, dem drohen ähnliche Strafen wie Kai Feller und seinen Freundinnen und Freunden.
Nach dem „Tribunal“ wird Kai Feller von zwei Mitgliedern der Jugendorganisation FDJ wie ein Verbrecher aus dem Saal abgeführt. Er wird von der Schule verwiesen, aus der Jugendorganisation FDJ ausgeschlossen und erhält ein Hausverbot. Den verbleibenden Schülerinnen und Schülern wird ein Kontaktverbot zu Kai und seinen Freunden auferlegt. Kai Feller wird somit landesweit und lebenslang der Zugang zum Abitur verwehrt.
Erst ein Jahr später, am Morgen nach dem Mauerfall, erfährt Kai Feller aus dem Berliner Tagesspiegel, dass die von der EOS „Carl-von-Ossietzky“ relegierten Schüler wieder an ihre Schule zurückkehren dürfen. Kai Feller hat zu diesem Zeitpunkt im Kirchlichen Oberseminar Potsdam-Hermannswerder bereits eine neue Schule gefunden, die ihm als verfolgtem Schüler Asyl gewährte.
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- Kai Feller - Der erste Tag an der Ossietzky-Schule
- Kai Feller - Die Speakers Corner
- Kai Feller - Der Anlass
- Kai Feller - Das Plakat an der Speakers Corner
- Kai Feller - Die Unterschriftenliste
- Kai Feller - Die Aktion findet Nachahmer
- Kai Feller - Die Schüler sollen ihre Unterschrift zurückziehen
- Kai Feller - Das Tribunal ,Teil 1 von 2
- Kai Feller - Das Tribunal ,Teil 2 von 2
- Kai Feller - Schulstrafen
- Kai Feller - Konflikte mit der Staatssicherheit
- Kai Feller - Solidaritätsaktionen
- Kai Feller - Eine Chance bei der Kirche
- Kai Feller - Mauerfall
- Kai Feller - Rückblick
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