Aktion "Gegenschlag"
Trotz des ungeheuren Drucks der Staatsmacht auf die Jenaer Friedensgemeinschaft (FG) gelingt es den Jenensern immer wieder, mit neuen, mutigen Aktionen auf sich aufmerksam zu machen.
Zum Beispiel beteiligt sich die FG Jena am 18. und 19. März 1983 an den offiziellen Gedenkveranstaltungen für die Opfer der Bombardierung Jenas im Zweiten Weltkrieg. Etwa 30 junge Leute der FG Jena versammeln sich auf dem Markt. Sie haben eigene Plakate mitgebracht und versuchen, an der Spitze des offiziellen Zugs zu laufen. Sie suchen die Öffentlichkeit. Schnell ist die Stasi zur Stelle, und der brutale Einsatz der Sicherheitskräfte findet vor den Augen vieler Jenaer Bürger statt. Gerade weil die gewaltsamen Verhaftungen in der Öffentlichkeit stattfinden, ist die Aktion für die FG Jena ein Erfolg. In den nächsten Tagen wird der Einsatz der Sicherheitsorgane unter den Jenensern kontrovers diskutiert.
Die Stasi schiebt über 40 Friedensaktivisten ab
Bei allen Risiken: Der Weg an die Öffentlichkeit bietet der FG Jena und anderen Oppositionsgruppen auch Schutz. Es ist nicht mehr möglich, FG-Mitglieder ohne größeres Aufsehen zu verhaften oder abzuschieben. Vor allem der Kontakt zu den Westmedien, der in dieser Zeit meist über Lutz Rathenow (Ost-Berlin) und Jürgen Fuchs (West-Berlin) hergestellt wird, sichert den FG-Mitgliedern wichtige Öffentlichkeit: Alles, was über das Westradio und -fernsehen ausgestrahlt wird, kommt zurück in die DDR.
Mit der Kirche, dem wichtigsten Rückzugsgebiet der DDR-Opposition, entzweit sich die Jenaer FG immer mehr. Sie wirft der Kirchenleitung mangelnde Unterstützung für politisch Inhaftierte, aber auch eine an die SED-Linie angepasste Politik vor.
Ab Mai 1983 wird die Stasi verstärkt gegen die FG Jena aktiv. Erklärtes Ziel: Beseitigung. Am 18. Mai 1983 startet sie die Aktion „Gegenschlag“. Innerhalb von drei Tagen werden 40 Personen in den Westen abgeschoben. Unter ihnen sind viele Mitglieder der Friedensgemeinschaft, wie Dorothea Fischer. Sie muss die DDR mit ihrer Familie innerhalb von 48 Stunden verlassen. Roland Jahn versucht, seine Ausreise zu verhindern, wird jedoch am 7. Juni 1983 festgenommen und gewaltsam in den Westen abgeschoben. (In den Zeitzeugen-Videos berichten Dorothea Fischer und Roland Jahn über ihre Erlebnisse.)
Am Tag zuvor entwirft die Stasi für den engagierten Widerständler einen minutiösen Plan unter dem Titel: „Vorgesehene Maßnahmen zur Realisierung der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR/Übersiedlung in die BRD des JAHN, Roland“. Roland Jahn wird unter einem Vorwand zum Stadtrat des Inneren vorgeladen. Dort eröffnet man ihm, dass seinem Ausreiseantrag – den er unter Druck im Gefängnis gestellt und nach seiner Entlassung wieder zurückgezogen hat – stattgegeben worden sei.
Die Operation "Gegenschlag" schneidet der SED ins eigene Fleisch
Stasi-Leute begleiten ihn zu seiner Wohnung, und er erhält „die Gelegenheit, sein Reisegepäck zusammenzustellen“. Roland Jahn wird daraufhin wieder zum Stadtrat gebracht, um sich dort unter Aufsicht der Stasi kurz von seinen Eltern zu verabschieden. Anschließend übergibt man ihn der Schutzpolizei, die ihn unter strenger Bewachung zur Grenzübergangsstelle Probstzella begleitet und nach Westen abschiebt. Um einen Fluchtversuch in letzter Minute zu vereiteln, wird Roland Jahn mit Handschellen in einer Zugtoilette eines Interzonenzugs angekettet, bis er die Grenze hinter sich gelassen hat (Bildergalerie).
Roland Jahn bleibt im Westen und darf bis 1989 offiziell nicht mehr in die DDR einreisen. Gegen seine gewaltsame Ausweisung richtet er schriftliche Proteste an den DDR-Staatschef Erich Honecker und an den UNO-Generalsekretär.
Mit der Aktion "Gegenschlag" ist der DDR-Führung ein entscheidender Schlag gegen die Jenaer Oppositionsgruppen gelungen. Doch der Preis ist hoch: Sowohl in der Bundesrepublik als auch im eigenen Land sorgt die Massenabschiebung für Aufsehen. Zahlreiche prominente Mitglieder der bundesdeutschen Grünen verurteilen das Vorgehen der Sicherheitsorgane in einem Protestschreiben an Erich Honecker.
Roland Jahn ist durch seine Abschiebung bei Weitem nicht kaltgestellt. Vom Westen aus unterstützt er jahrelang mit allen Kräften die Arbeit des DDR-Widerstands. Vor allem, indem er dafür sorgt, dass die Aktionen der Oppositionsgruppen regelmäßig in den Westmedien thematisiert werden.
Zitierempfehlung: „Aktion Gegenschlag“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145387
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