Rauswurf wegen „Zersetzungsarbeit“: Nach der Verhaftung der Werdauer Widerstandsgruppe beschließt das Lehrerkollegium der Alexander-von-Humboldt-Oberschule am 13. Juni 1951 einstimmig, die verhafteten oder geflohenen Oberschüler von der Schule auszuschließen. Damit bleibt den Schülern der weitere Bildungsweg in der DDR versperrt. Deshalb fliehen viele von ihnen später in den Westen. Im Bild: Achim Beyers Mitteilung über seinen Schulausschluss. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer Abschrift
„Laufkarte“ des Häftlings Achim Beyer, auf der unter anderem die verschiedenen Haftorte und -zeiten eingetragen sind. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer, Seite 1 von 2
„Laufkarte“ des Häftlings Achim Beyer, auf der unter anderem die verschiedenen Haftorte und -zeiten eingetragen sind. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer, Seite 2 von 2
Besucherlaubnisschein für Achim Beyer: Am 10 Juli 1955 darf seine Mutter ihn für 30 Minuten in der Haftanstalt Waldheim besuchen. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Weil er aus dem Fenster seiner Zelle geschaut hat, wird gegen Achim Beyer eine Hausstrafverfügung erlassen. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer, Seite 1 von 2 Abschrift
Weil er aus dem Fenster seiner Zelle geschaut hat, wird gegen Achim Beyer eine Hausstrafverfügung erlassen. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer, Seite 2 von 2 Abschrift
Mai 2006: Ankündigung eines Vortrages von Achim Beyer am Leibnitz-Gymnasium in Altdorf über den Kampf der Werdauer Schüler. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Jahre später: Zeitzeuge Achim Beyer hält einen Vortrag am Leibnitz-Gymnasium in Altdorf. Dort spricht er über den Kampf der Werdauer Schüler. Quelle: Privat-Archiv Achim Beyer
Werdau, Winter 1950. Der Direktor der Alexander-von-Humboldt-Oberschule erteilt dem 17-jährigen Schüler Achim Beyer eine Aufgabe: „Du übernimmst zum 'Tag des jungen Widerstandskämpfers' am 23. Februar das Referat über die Geschwister Scholl!“ Zur Vorbereitung auf den Vortrag gibt der Rektor Achim Beyer eine gedruckte Ausgabe der Flugblätter aus dem Kreis der Münchener Studenten, die gegen Hitler gekämpft haben. Die Aufrufe der sieben Jahre zuvor hingerichteten Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl scheinen direkt an ihn gerichtet zu sein.
Vorher schon wird Achim Beyer von einem Mitschüler ein Reclam-Heft zugesteckt – dem Umschlag nach ein Band über die Revolutionsliteratur von 1848. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine im Westen produzierte Tarnschrift: Im falschen Einband befindet sich George Orwells Roman 1984, der in der DDR verboten ist. Die Parallelen sind jungen Menschen in der DDR der frühen 1950er Jahre nur allzu deutlich: Der Große Bruder in Orwells Buch trägt die Züge von Josef Stalin. Das beschriebene totalitäre System erinnert stark an die aktuellen Zustände in der DDR.
Schon längere Zeit diskutieren die Schüler intensiv über die Situation in der soeben gegründeten Republik. Viele lehnen sich empört gegen die neuerliche Errichtung einer Diktatur auf. Eine offene Diskussion scheint aber aussichtslos und gefährlich. So beschließen sie, nach dem Vorbild der Münchner Studentengruppe Weiße Rose heimlich Flugblätter zu verteilen.
Die ersten Flugblätter werden ganz einfach mit einem Handdruckkasten hergestellt. In den Gerichtsakten und den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit ist diese Herstellung minutiös geschildert. Die Originale sind nicht erhalten, wohl aber die Texte: „Wir sehnen uns nach Frieden, nach der Einheit Deutschlands in Freiheit – Weg mit den Volksverrätern, wählt mit NEIN!“
Achim Beyer ist das Risiko klar, das er mit Aktionen wie dieser eingeht. Als Strafe kann ein Todesurteil verhängt werden. Trotzdem macht er mit seinen Freundinnen und Freunden weiter. Als Liebespärchen getarnt, verteilen die Jugendlichen in Zweiergruppen nachts ihre Flugblätter und schreiben Parolen an Häuserwände.
In der Nacht zum 19. Mai 1951 werden zwei Gruppenmitglieder auf frischer Tat beim Verteilen von Flugblättern ertappt. Am nächsten Morgen verbreitet sich die Nachricht in der Schule. Für Achim Beyer beginnt eine abenteuerliche Flucht, die schließlich mit seiner Verhaftung endet. Am Tag seines 19. Geburtstags wird er zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren verurteilt.
Biografische Angaben zu Achim Beyer finden sie im Personenlexikon.
Zitierempfehlung: „Achim Beyer“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Juli 2022, www.jugendopposition.de/145502
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„Dieser Schulleiter sprach häufig davon: Man muss gegen eine Diktatur etwas unternehmen`, und wir haben das damals gemacht. Und dann gab es ja in der DDR einen Tag der jungen Widerstandskämpfer. Der 23. Februar eines jeden Jahres war Tag der Hinrichtung der Geschwister Scholl. Und ich war der Schulungsleiter. Da kam der Schulleiter auf mich zu und sagte: Achim, hör zu, du hältst einen Vortrag über die Geschwister Scholl zum Tag der jungen Widerstandskämpfer vor der ganzen Schule.` Na ja, und ich sagte: ,Ich habe kein Material dazu`. Dann gab er mir aus irgendwelchen Broschüren die Texte der Flugblätter der Geschwister Scholl. Das Flugblatt Nummer sechs – die sind von den Scholls durchnummeriert gewesen – das las ich. Das war wie automatisch bei mir im Kopf: NSDAP gegen SED ausgetauscht, HJ gegen FDJ, GESTAPO gegen STASI, die gerade gegründet worden war. Der einzige Unterschied: Es war kein Krieg mehr. Aber dort war von weltanschaulicher Schulung die Rede, so hieß das während der Nazizeit, und von anderen Dingen. Das war eine ideologische Schulung, die wir inzwischen voll auf uns einwirken lassen mussten. Diskutieren war da nicht mehr. All das kam zusammen, und dann kam bei mehreren von uns die Idee auf. Das war in dieser Zeit einfach altersmäßig und umständemäßig bedingt. Diskutieren können wir nicht, nur im kleinsten Kreis. Ich weiß nicht, ob irgendwo auch noch jemand mal was gehört hat, es sind Flugblätter verteilt worden oder so. Mag sein, an die Details erinnert man sich nur zum Teil. Auf jeden Fall: Wir müssen auch was tun! Das war plötzlich unsere Auffassung.
Da gab's einen harten Kern, der begann, die ersten Flugblätter herzustellen und eine Gruppe aufzuziehen. Das zog weitere Kreise. Die ersten Flugblätter wurden ganz primitiv mit einem Handdruckkasten hergestellt. Die Erinnerung daran ist eher schwach, aber es sind etwa 4.000 Blatt Akten gefunden worden, die sich mit dem Prozess und den damit verbundenen Umständen beschäftigen. Da steht es minutiös drin: Am so und so Vielten wurden in Werdau in der und der Straße so und so viele Flugblätter gefunden, mit folgendem Text. Größe so und so, so und so viel mal so und so viel Zentimeter, die Farbe, alles ist genau beschrieben. Die ersten Flugblätter sind zwar nicht erhalten, aber die Texte. Das Erste, das wir gemacht hatten, das war vor der Volkskammerwahl 1950.
Das hatte so in etwa den Text: .“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur