Am 15. Oktober 1950 finden in der DDR die ersten Volkswahlen statt. Der Begriff trügt: Die Bevölkerung hat überhaupt keine Wahl. Denn schon vor den Abstimmungen werden alle Mandate der Volkskammer, der Landtage und Kommunalvertretungen nach einem vereinbarten Schlüssel unter den Parteien und Massenorganisationen verteilt. Es steht von vornherein fest, dass die SED zusammen mit den SED-Abgeordneten der Massenorganisationen die absolute Mehrheit stellt.
Gegen diesen offensichtlichen Betrug empört sich ein 18-jähriger Oberschüler aus dem sächsischen Städtchen Olbernhau. Mit einem Druckkasten stellt Hermann Joseph Flade ungefähr 200 Flugblätter her. Die verstreut er nachts heimlich auf Straßen und Plätzen. Beim ersten Mal geht alles gut, doch am Vorabend der Wahl überrascht ihn eine Streife der Volkspolizei. Hermann Joseph Flade wehrt sich: Er zieht ein Taschenmesser, verletzt einen der Polizisten leicht und entkommt. Zwei Tage später wird er festgenommen.
Das kann die Partei nicht auf sich sitzen lassen. Die SED will ein Exempel statuieren: Die Hauptverhandlung gegen Hermann Joseph Flade findet als Schauprozess in der Gaststätte Tivoli statt, dem größten Saal der Kleinstadt. Der ist voll, denn die Parteiorganisationen und Betriebe verpflichten etwa 1.200 ihrer Mitglieder bzw. Mitarbeiter zur Teilnahme. Zum Ärger des Gerichts bekennt sich der junge Angeklagte offen zu seiner Tat. So zitiert ihn das Verhandlungsprotokoll: „Ich sagte mir, bei einer Wahl müsste auch eine andere Stimme gehört werde. Da ich das nicht offen machen konnte, weil ich sonst von der Schule fliegen würde, musste ich das nachts im Geheimen tun.“
Am 10. Januar 1951 verhängt das Gericht das drakonische Urteil: Todesstrafe für Hermann Joseph Flade. In der Bundesrepublik und in West-Berlin ruft das Urteil eine öffentliche Protestwelle hervor. Aber auch in der DDR bricht untergründig ein Sturm der Entrüstung los: Vielerorts tauchen Flugblätter und Wandparolen auf. Unter dem Druck der Proteste sieht sich die SED genötigt, das Todesurteil in großer Hast umzuwandeln. 19 Tage später verkündet man in zweiter Instanz: 15 Jahre Zuchthaus. Nachdem Hermann Joseph Flade zwei Drittel seiner Strafe in Bautzen, Torgau und Waldheim verbüßt hat, wird er 1960 im Rahmen einer großen Amnestie entlassen. Er verlässt die DDR und geht in den Westen.
Zitierempfehlung: „Hermann Joseph Flade“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung September 2018, www.jugendopposition.de/145426
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Die Jahre '50, '51, '52 waren die schlimmsten. Da war ich noch nicht in dem Alter, wo ich das so komplett wie die ältere Generation mitbekommen habe. Wir haben mehr die Schauprozesse in der DDR mitbekommen, die Frau Benjamin geführt hatte. Das lief zum Teil auch über den Rundfunk. Die Urteile haben stark provozierend gewirkt. Das heißt, sie haben die Radikalität, mit der wir das SED-Regime abgelehnt und bekämpft haben, erheblich gesteigert. Vor allen Dingen, weil dann immer wieder Todesurteile gefällt wurden. Gerade der Flade-Prozess hat eine ungeheure Rolle gespielt, auch bei vielen anderen Gruppen, wie ich später aus den Akten entnommen habe. Das ging durchaus so weit, dass wir uns sagten: Wenn irgendjemandem von uns die Todesstrafe droht, dann kann es passieren, dass man Vergeltungsmaßnahmen ergreift.
Thomas Ammer, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de