Kathrin Mahler Walther
Von allen Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, die in einer der Leipziger Oppositionsgruppen Ende der 1980er Jahre aktiv waren, ist Kathrin Walther, wie sie damals hieß, vermutlich die Jüngste. Gleichzeitig ist sie so zielstrebig und aktiv wie wenige andere. Ihre Arbeit bei den Leipziger Basisgruppen beginnt bereits 1987, da ist sie erst 16.
Schon in der Schulzeit fällt sie mit ihrer unbequemen, unangepassten Art auf. Wenn ihre Mitschülerinnen und Mitschüler Thesen, die ihnen im Staatsbürgerkundeunterricht beigebracht werden, auswendig lernen und einfach nur wiedergeben, hinterfragt Kathrin das Gesagte. Ihr ist klar, dass die anderen Kinder zu Hause auch oft eine andere Meinung vertreten. Aber Kathrin konfrontiert die Lehrenden mit den Widersprüchen, die sie zwischen der ihr beigebrachten Lehre vom Sozialismus und dem Alltag in der DDR erkennt. Durch ihren Ehrgeiz und ihren Wunsch nach Veränderungen eckt sie nicht nur bei den Lehrenden an und ist oft isoliert von den anderen Jugendlichen in ihrer Schule.
Freunde und Gleichgesinnte findet Kathrin in der Jungen Gemeinde in Leipzig. Hier denken die Leute ähnlich wie sie, treffen sich regelmäßig in Arbeitskreisen und sprechen offen ohne Grenzen und Verbote die eigenen Gedanken abseits der sozialistischen Ideologie zu formulieren, über die Dinge, die sie stören.
„Ich wollte dieses Land verändern“
Eine Einladung zu einer Informationsveranstaltung mit dem Titel „Wir sind so frei!“ lässt 198? sie auf die Arbeitsgruppe Menschenrechte (AGM) aufmerksam werden. Die Gruppe, geleitet und inspiriert durch Christoph Wonneberger, den Pfarrer der Leipziger Lukasgemeinde setzt sich besonders für einen Sozialen Friedensdienst als Alternative für den staatlichen Wehrdienst ein. Durch ihre Arbeit in einem Pflegeheim kennt Kathrin die Probleme viele sozialer Einrichtungen in der DDR und ist begeistert von der Idee, durch einen Sozialen Friedensdienst den Personalmangel besonders im Pflegebereich zu kompensieren. Fortan nimmt Kathrin jeden Donnerstag an der Sitzungen der AGM in der Lukaskirche in Leipzig-Volkmarsdorf teil.
Trotz ihres jungen Alters wird Kathrin wegen ihres oppositionellen Engagements ständig von der Staatssicherheit beobachtet. Für Kathrin bedeutet diese Beobachtung eine erhebliche Einschränkung ihres alltäglichen Lebens. Die Gedanken, die sie jeden Abend seitenweise in ihr Tagebuch schreibt, vernichtet sie kurze Zeit später wieder, damit der Staatssicherheit keine Geheimnisse in die Hände fallen. Und weil sie jederzeit damit rechnen musste verhaftet zu werden, hat sie immer eine Zahnbürste dabei. Auch der Druck, der wegen ihres Engagements bei der AGM auf ihre Eltern ausgeübt wird, ist enorm. Die Staatssicherheit erscheint unangekündigt auf der Arbeitsstelle ihrer Eltern und verlangt, dass Kathrin ihr Engagement beendet. Im Frühjahr 1988 verspricht Kathrin ihren Eltern sich nicht mehr in der AGM zu engagieren so lange sie zu Hause lebt. Wenig später zieht sie in ihre erste eigene Wohnung in der Leipziger Mariannenstraße, wo schon viele Engagierte lebten.
Der „Statt-Kirchentag“ in Leipzig
Vom 6. bis 9. Juli 1989 findet in Leipzig der Kirchentag der Evangelischen Landeskirche statt. Die Friedens- und Menschenrechtsgruppen der Leipziger Kirchen werden allerdings von der Organisation ausgeschlossen. Die Gruppen sind empört und fragen sich, was sie stattdessen machen könnten. Pfarrer Wonneberger kommt der zündende Gedanke: „Einen Statt-Kirchentag!“, mit ihrem eigenen Programm und ihren eigenen Gästen. Kathrin beteiligt sich an der Organisation, denn die Veranstaltung soll in ihrer Gemeinde in der Lukaskirche stattfinden. So schaffen sich die Leipziger Basisgruppen ihre eigene Plattform. Hier können sie ihre Ideen und Vorstellungen präsentieren. Sogar der sozialdemokratische Politiker Erhard Eppler kommt aus der Bundesrepublik und diskutiert mit den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern Europäische Ideen.
Aber auch wenn die Basisgruppen vom offiziellen Kirchentag ausgeschlossen wurden, wollen Katrin und ihre Freunde mit einer Aktion bei der großen Abschlusskundgebung auf sich aufmerksam machen. Das Thema ist klar: Kurz zuvor wurde auf dem Pekinger Tian'anmen-Platz die chinesische Demokratiebewegung blutig niedergeschlagen. Die Oppositionellen wollen die öffentliche Plattform des Kirchentages nutzen und sich mit der chinesischen Protestbewegung solidarisieren. Sie wollen ein zuvor vorbereitetes Transparent, dass das chinesische Schriftzeichen für „Demokratie“ trägt, nach dem offiziellen Part der Veranstaltung auf der Bühne der Abschlusskundgebung zeigen und so auch ein Zeichen an die Staats- und Parteiführung senden, die die blutige Beendigung der Proteste in Peking begrüßt hatte.
Die kirchlichen Ordner reagieren konsequent und lassen die Gruppe nicht auf die offizielle Bühne. „Nicht mal auf dieser kirchlichen Veranstaltung darf man seine Meinung kundtun!“, denken sich Kathrin und die anderen junge Leute. Trotzig entscheiden sie sich die Gruppe kurzer Hand das Gelände des Kirchentages zu verlassen und das Transparent in die Innenstadt zu tragen. Wenig später, als die Gruppe das Kirchentagsgelände verlässt, springen Stasi-Beamte aus einer Straßenbahn und entreißen den Demonstrantinnen und Demonstranten das Plakat und die Aktion ist beendet.
„Heute Abend schreiben wir hier Geschichte“
Wenige Monate später, am 9. Oktober, als die Teilnehmenden der Leipziger Montagsdemonstrationen das erste Mal ungehindert von den Sicherheitskräften um den Leipziger Innenstadtring ziehen, ist Kathrin 19. An diesem Tag ist die Lage in der Stadt extrem angespannt. Neben anderen formulieren auch die Leipziger Basisgruppen einen Appell, in dem sie alle Seite auffordern keine Gewalt einzusetzen. Kathrin soll am Abend des 9. Oktobers mögliche staatliche Übergriffe und Gewaltexzesse beobachten und diese dann per Telefon in die Lukaskirche melden. Von dort sollen die Informationen dann an die westliche Presse weitergereicht werden. Sie positioniert sich in der Evangelisch-Reformierten Kirche und hofft von dort einen guten Blick auf die Demonstration zu haben. Während Aram Radomski und Siegbert Schefke auf dem Kirchturm die Demonstration mit einer Kamera filmen, versteckt sich Kathrin in der Kanzel der Kirche und notiert sich unter anderem die Anzahl und die Rufe der Demonstrierenden. Die Sicherheitskräfte greifen nicht ein und Kathrin kann von zehntausenden Menschen berichten, die öffentlich und unbehelligt vom SED-Regime für Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit demonstrieren.
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