Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter
Nur wenige Tage nach dem Mauerbau 1961 fallen die ersten Todesschüsse auf Flüchtlinge. Im Westen herrscht darüber große Empörung, aber auch eine gewisse Hilflosigkeit. Man ist sich dessen bewusst, dass man kurzfristig die Gewaltakte weder verhindern noch juristisch verfolgen kann. Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Willy Brandt (SPD), wendet sich deswegen am 5. September 1961 an die Ministerpräsidenten der Bundesländer. Er schlägt vor, die Registrierung der Straftaten der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen für NS-Verbrechen in Ludwigsburg zu übertragen.
Die Konferenz der Justizminister der Bundesrepublik beschließt am 27. Oktober 1961, eine Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen einzurichten. Die Aufgabe wird Niedersachsen als dem Bundesland mit der längsten Grenze zur DDR übertragen. Sitz der Zentralstelle ist Salzgitter.
Bereits am 24. November 1961 nimmt die Behörde ihre Arbeit auf. Grundstock sind die Ermittlungsakten über 50 Gewaltakte an der Berliner Grenze. Der Aufgabenbereich wird 1963 erweitert.
„Salzgitter“, wie die Zentrale Erfassungsstelle kurz genannt wird, registriert alle bekannt werdenden politisch motivierten Unrechtshandlungen innerhalb der DDR. Dazu gehören politische Urteile, Misshandlungen in Ermittlungsverfahren und im Strafvollzug sowie andere Verletzungen der Menschenrechte. Die Erfassungsstelle ist eine Vorermittlungsbehörde, die Voraussetzungen für eine künftige Strafverfolgung schaffen soll. Wenigstens theoretisch hat man so künftige Strafprozesse gegen die Verantwortlichen in der DDR im Auge.
Nach der internationalen Anerkennung der DDR und der Aufnahme von Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik 1973 nehmen die polemischen Angriffe der DDR auf die Erfassungsstelle zu. Salzgitter ist in der DDR eine der meist gehassten Einrichtungen der Bundesrepublik. Ihre Auflösung ist ein Punkt der Geraer Forderungen, die Erich Honecker 1980 formuliert.
Allerdings verliert die innerdeutsche Grenze auch durch kleinere Korrekturen, wie den Abbau der Selbstschussanlagen ab 1983, kaum etwas von ihrer Brutalität. Nach wie vor gibt es zahllose politische Urteile und andere Rechtsverletzungen. Es gibt also keine wirkliche Grundlage für die Einstellung der Datenerhebung über Unrechtshandlungen in der DDR.
Doch setzt man im Westen nun stärker auf Gespräche als auf Konfrontation und laute Proteste. Die Wiedervereinigung und eine Strafverfolgung der SED-Täter scheinen in weite Ferne gerückt. Die SED-Führung ist für Politiker aller Parteien zum begehrten Gesprächspartner geworden. Zur gleichen Zeit gegen die Verantwortlichen in der DDR Material für künftige Strafprozesse zu sammeln, scheint jetzt auch im Westen für viele kontraproduktiv zu sein. Besonders SPD-Politiker sehen in der Erfassungsstelle ein Relikt des Kalten Kriegs. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert 1984 deren Auflösung. Seit 1988 stellen die sozialdemokratisch regierten Bundesländer und West-Berlin schrittweise die Mitarbeiter und die Finanzierung der Behörde in Salzgitter ein.
Nach dem Zusammenbruch der DDR erweist sich das in Salzgitter gesammelte Material als sehr hilfreich für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Die Aktenbestände sind in der Zentralen Beweis- und Dokumentationsstelle bei der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig archiviert. Sie dienen der juristischen Aufarbeitung des SED-Unrechts, der Aufklärung von Schicksalen, bei Rehabilitationsverfahren sowie der wissenschaftlichen Forschung.
Rückblickend räumen heute selbst manche Kritiker der Zentralen Erfassungsstelle ein, dass sie eine wichtige Aufgabe bei der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und bei dessen Überwindung gespielt hat.