Zum ständigen Repertoire kommunistischer Staatspropaganda gehören Aufrufe, die Arbeitsleistung zu steigern. Der Bergarbeiter Adolf Hennecke und die Weberin Frida Hockauf aus Zittau werden als Helden des erwünschten sozialistischen Wirtschaftswunders inszeniert. Die SED wählt diese und andere Arbeiter als Vorbilder, um den Brigaden die Überbietung der Normen schmackhaft zu machen.
Nach der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 macht die Partei- und Staatsführung der DDR mit erhöhten Leistungsforderungen Ernst. Beim Aufbau der Schwerindustrie, bei der Aufrüstung und den anhaltenden Reparationsleistungen an die Sowjetunion sollen die Arbeiter stärker herangezogen werden. Das Rezept: höhere Preise und niedrigere Löhne. Dies stößt nicht nur auf Widerstand in den Betrieben. Selbst die Funktionäre der Staatsgewerkschaft Freier Deutscher Gewerkschaftsbund folgen der Politik der SED teilweise nur widerwillig.
Trotz dieser bedrohlichen Anzeichen entschließt sich die SED-Führung, im Frühsommer 1953 die Normenerhöhung durchzusetzen. Die Appelle an die „Freiwilligkeit der Arbeiterschaft“ zeigen nicht den erwünschten Erfolg, denn eine Mehrarbeit ist kaum noch möglich. Dennoch legt das Zentralkomitee der SED am 14. Mai 1953 fest, dass die Minister und Staatssekretäre „alle erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung des schlechten Zustandes in der Arbeitsnormung“ treffen. Ihr Ziel ist es, die Erhöhung der Arbeitsnormen um durchschnittlich zehn Prozent bis zum 1. Juni 1953 sicherzustellen.
Mehr, mehr, mehr: Die SED macht Druck auf die Arbeiter
Überall beginnen nun die Vorbereitungen für eine solche Normenerhöhung. In den Betrieben werden Versammlungen der Gewerkschaft einberufen, auf denen die Funktionäre die Notwendigkeit der Normenerhöhung erklären sollen. Es kommt zu heftigen Diskussionen, zu Widerspruch und grundsätzlicher Kritik an der Parteiführung. Es herrscht eine gereizte Stimmung, die durchaus – wie man heute aus dem überlieferten Material weiß – nach oben vermeldet wird. Es fehlt also nicht an Warnungen, doch die Parteiführung bleibt stur.
Die Sowjetführung ist über die Situation in der DDR beunruhigt und verordnet der SED-Führung einen Kurswechsel. Eine Reihe von Maßnahmen werden in Moskau diskutiert und beschlossen. Die sofort umzusetzenden Beschlüsse betreffen unter anderem das Schulwesen, die Kirchen und Künstler, das Flüchtlingsproblem sowie die Lebensmittellage. Als am 9. Juni 1953 der Neue Kurs beschlossen wird, gibt die SED in fast allen Punkten nach. Die Normenerhöhungen sollen aber bleiben. Eine Woche später ziehen die Bauarbeiter von der Stalinallee und von der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain quer durch Berlin zum Regierungssitz in der Leipziger Straße. Die Normenfrage ist nicht die einzige Ursache des Volksaufstands vom 17. Juni. Doch sie ist der zündende Funke im Pulverfass des allgemeinen Unmuts.
Zitierempfehlung: „Arbeiteralltag“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145431
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Und dann kam der 17. Juni. Die Ursache für den 17. Juni war ja die Normerhöhung. Ich war da Brigadier – alle zehn Tage wurde abgerechnet. Da musste man mit seinen Unterlagen beim Oberbauleiter vorstellig werden, und der hat noch mal abgeprüft und unterschrieben, was man gemacht hat. Und da merkten wir ja schon, was los ist. Es kam ganz plötzlich die Verschärfung: zehn Prozent Normerhöhung.
Auf der Baustelle war ein Kulturhaus und die Baracken, wo jede Brigade saß. Ich hatte da 12, 13 Mann unter mir. Von da aus hörte man, wie sich die Brigadiere verständigten. Am 16. Juni hörten wir Radio. Abends nach Hause gekommen, Radio, Berlin RIAS eingeschaltet. Da hörten wir: In Berlin, Alex, hatten die Bauarbeiter schon die Arbeit niedergelegt. Und wir haben am 16. und 17. auch keinen Handschlag gemacht. Am 17. Juni sind wir wieder auf der Arbeitsstelle erschienen. Alle Brigadiere haben sich kurz zusammengesetzt. Wir haben beschlossen: Wir versammeln uns in unserem Kulturraum, wo wir auch zu Mittag aßen. Da versammelten wir uns und beschlossen weitere Maßnahmen. Da wurde die Streikleitung gewählt. Dann haben sich zehn Kollegen gemeldet. Der Bauleiter stellte uns eine Stenotypistin – die hat alle Punkte aufgeschrieben. Das sollte zur Streikleitung nach Berlin gebracht werden. Sicherheitshalber, wenn wir nicht durchkämen, sollten zehn Fahrräder fahren.
Heinz Grünhagen, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de