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Aufstand 53 - Mediziner in Greifswald_RHG_Fak_0328_a

Protokoll einer Demütigung: Eine Medizinstudentin berichtet über ihre Erlebnisse am Abend des 30. März 1955, ihre Verhaftung und die entwürdigenden Bedingungen während der Untersuchungshaft. Quelle: Universitätsarchiv Greifswald, Seite 2 von 2
Protokoll einer Demütigung: Eine Medizinstudentin berichtet über ihre Erlebnisse am Abend des 30. März 1955, ihre Verhaftung und die entwürdigenden Bedingungen während der Untersuchungshaft. Quelle: Universitätsarchiv Greifswald, Seite 2 von 2


Abschrift:

Eine Medizinstudentin berichtet über ihre Erlebnisse am Abend des 30. März 1955, ihre Verhaftung und die entwürdigenden Bedingungen während der Untersuchungshaft.


Greifswald, den 6.4.55.

Berichte über Vorkommnisse in Greifswald
am 30.3. und 31.3.55

Gemäß dem Auftrage, den ich am 4.4.55 bei meiner Vorsprache im Staatssekretariat für Staatssicherheit (Auskunft) in Gegenwart meines Vaters erhalten habe, berichte ich über meine und meiner Schwester Erlebnisse anlässlich und während unserer Festnahmen in Greifswald am Mittwoch, den 30.3.55 und Donnerstag, den 31.3.55 folgendes:

Wir hatten uns auf dem Universitätshof versammelt, um etwas über die bevorstehenden Veränderungen betreffs der Umwandlung der medizinischen Fakultät zu erfahren. Herr Prof. Katsch redete zu uns und versprach, dass der Staatssekretär Harig zu uns sprechen würde. Da unterbrach ihn der Vorsitzende des Rates des Kreises, Herr Westphal, mit der Feststellung, das wäre gar nicht notwendig, es fände für uns um 20 Uhr in der Aula eine Vollversammlung statt. Er schloss mit der Drohung, dass, wenn wir nicht in 5 Minuten den Platz räumten, die Polizei einschreiten würde. Dies bezeichne ich in vollem Bewusstsein der Tragweite dieser Behauptung als Veranlassung zu den folgenschweren Vorfällen der nächsten Tage, die so vielen jungen Menschen Unglück brachten, unter ihnen auch meinem armen Bruder. Auf die Aufforderung des Herrn Westphal hin versammelten wir uns in der Aula. Als wir hörten, dass der medizinischen Fakultät nichts von dieser Versammlung bekannt sei, wollten wir den Saal verlassen. Plötzlich wurden wir zusammengedrängt, die Türen unten waren verschlossen worden, Polizisten brachten uns nacheinander zu Lastkraftwagen, die auf dem Hof bereit standen, und wir wurden ins Gefängnis abtransportiert.

Jetzt schildere ich meine und meiner Schwester Erlebnisse im Gefängnis in Greifswald:

Auf dem Gefängnishof brüllte uns ein(e) Polizist(in) an "An die Wand stellen". Wir kamen, nachdem man uns die Personalausweise abgenommen hatte, zu ungefähr 25 in eine kleine ungeheizte Zelle ohne Sitzgelegenheiten. Einigen von uns wurde durch die Aufregung schwach. Als sie sich auf den Tisch setzten, wurden sie aufgejagt. Ungefähr von 22 Uhr bis 23 Uhr 15 wurde ich zum 1. Mal verhört. Ich beklagte mich über die schlechte Behandlung, worauf der Vernehmende mir entgegnete, das hätte ich mir selbst zuzuschreiben. Das Verhör war sehr anstrengend, seine Form dürfte bekannt sein. Danach kam ich erst allein in eine andere Zelle, in der sich nur ein Tisch befand, so dass ich mich nicht setzen konnte, obgleich es Nacht war. Allmählich füllte sich die Zelle mit den Verhörten. Nach stundenlangem Stehen (und das in der Nacht !) wurden wir zum Registrieren geführt.

Als ich mich dort müde an die Wand lehnte, brüllte einer der Aufseher mich an: "Weg von der Wand!" Reden miteinander wurde uns strengstens untersagt. Bei diesem Stehen bekam eine Kollegin Magenkrämpfe. Nach dem Registrieren kamen wir in eine andere Zelle, die ebenfalls so klein war, in der wir ungefähr zu 35 gequetscht standen, und das ungefähr noch 4-5 Stunden. Als wir morgens hungrig um Essen baten, entgegnete uns ein Aufseher höhnisch: "Wir sollen Ihnen wohl noch Kuchen bringen." Eine von uns war Diabetikerin und musste pünktlich um ½ 8 Uhr ihre Spritze bekommen. Aber erst nach 11 Uhr wurde sie (ich nehme an zu diesem Zweck) herausgerufen.

In dieser Weise verbrachten wir den Vormittag und wurden immer verzweifelter und schwächer. Mittags bekamen wir wieder nichts zu essen. Um 14 Uhr ungefähr wurde ich erneut zum Verhör gerufen. Die Form dieser Vernehmung war bedeutend schärfer. Mir wurde schlecht. Ich bat, dass einen Augenblick das Fenster geöffnet würde. Er sagte, dann würde es zu kalt. Das ganze Verhör geschah in einem niederträchtigen Ton. Mit Überrumpelungsversuchen, die direkt nervenaufreibend waren, so war der Vernehmende wohl gewöhnt, mit Verbrechern umzugehen, versuchte er, aus mir Aussagen herauszupressen. Nach ungefähr 2 Stunden Quälerei durfte ich gehen. Ich erhielt meinen Personalausweis zurück und kam vor Schwäche kaum nach Hause.
Meine Schwester hatte dieselben Erlebnisse, nur dass sie noch viel schärfer verhört wurde (warum wohl?) und mehrere Stunden in Einzelhaft verbringen musste. Dieser Aufenthalt war für sie besonders bedrückend, da ihr beim vorangegangenen Verhör gedroht wurde, in einer Woche werde sie ganz anders reden. Als sie um Decken bat, da die Zelle ungeheizt war, wurden ihr diese verweigert, so dass sie einen schweren Blasen-Magen- und Darmkatarrh davontrug, unter dem sie noch leidet.

Am nächsten Tag erlitt ich in einer Vorlesung einen Nervenzusammenbruch, so dass ein Arzt gerufen werden musste. Zu Hause in Stralsund musste ich mich in nervenärztliche (Prof. Moser) Behandlung begeben und bin für längere Zeit arbeitsunfähig. Meine Schwester und ich sind in unserem Studium geschädigt und wissen nicht, wie wir unsere Arbeit bis zum Vorphysikum schaffen sollen.

Wie uns beiden und teilweise noch viel schlimmer erging es unseren Kollegen und Kolleginnen. Ich versuchte, die von ihnen gewünschten Berichte zu sammeln. Es herrscht aber eine derartige Angst, verursacht durch Drohungen und Einschüchterungen beim Verhör, dass es keiner wagte, mir solchen Bericht mit Namen zu geben. Sie sagen alle, es möchte einer vom Staatssekretariat für Staatssicherheit kommen und sie zusammen befragen, dann würden sie den Mut zur Aussage haben. Ihnen fehlt die Erfahrung, die ich in Berlin bei ihnen mit meinem Vater zusammen gemacht habe, dass nämlich die Behandlung, die wir erleiden mussten, nicht von oben angeordnet oder gebilligt wird.

Ich möchte hinzufügen, dass in Greifswald von sehr vielen Studenten vermutet wird, dass von einigen Mitstudierenden wie z. B. Heinz Wilhelm Gromoll und Gerda Sahm falsche oder zumindest übertriebene Berichte bzw. Anzeigen abgegangen sind. Die Studentenschaft kann sich somit nicht erklären, wie es zu diesem Massenaufgebot und Einschreiten seitens der staatlichen Organe kommen konnte. Diese Angelegenheit bedürfte zur Beruhigung der Studenten dringend einer Untersuchung.

gez. stud. med. (Name geschwärzt)

Anbei ein Bericht von stud. med. (Name geschwärzt), der diesen mir auf meine Bitte hin zur Verfügung stellte.



Quelle: Universitätsarchiv Greifswald

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