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Revolution 89 - Gedächtnisprotokolle und Unabhägige Untersuchungskommission_RHG_Fak_0944_a

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„Kesseltreiben unter Einsatz von Schlagstöcken, Hunden und Militärtechnik“: Bürger, die bei den Demos am 7. und 8. Oktober 1989 in Ost-Berlin in Bedrängnis geraten sind oder verhaftet wurden, schreiben Gedächtnisprotokolle. Diese werden gesammelt...
„Kesseltreiben unter Einsatz von Schlagstöcken, Hunden und Militärtechnik“: Bürger, die bei den Demos am 7. und 8. Oktober 1989 in Ost-Berlin in Bedrängnis geraten sind oder verhaftet wurden, schreiben Gedächtnisprotokolle. Diese werden gesammelt und veröffentlicht. Dabei spielt die Gethsemanekirche im Bezirk Prenzlauer Berg eine große Rolle. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft, Seite 3 von 4


Abschrift:

Gedächtnisprotokolle zu den Verhaftungen am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin.

Berlin, den 8.10.89

Liebe Gemeinde!

Ich bin eine Mutter von zwei Söhnen im Alter von 17 und 12 Jahren. Mein 12jähriger Sohn wird wohl diesen 40. Geburtstag nie in seinem Leben vergessen. Ich möchte Ihnen ausführlich berichten, was mein jüngster Sohn am 7. Oktober erleben mußte.

Um ca. 20.00 Uhr bin ich mit meinem Sohn noch etwas spazieren gegangen. Wir trafen Bekannte und unterhielten uns ca. 1 Stunde in der Stargarder Straße. Als ich mit meinem Sohn in die Lychener Str. einbog, war dort alles von Volkspolizisten abgesperrt. Ich wollte mit meinem Kind nur nach Hause, denn wir wohnen in der Lychener Str. Plötzlich wurde in der Stargarder Str. ein Jugendlicher von mindestens 6 Polizisten mit Knüppeln geprügelt. Dieser Jugendliche schrie so herzzerreißend, daß man unwillkürlich stehen blieb. Dann kam die VP mit dem Kommando „einfangen“ oder so ähnlich. Mein Sohn wurde am Ärmel gerissen und auf ein bereitstehendes VP-Lastauto gezerrt und ich gleich hinterher. Ich habe diese Leute darauf hingewiesen, daß es ein Kind von 12 Jahren sei. Aber diese Leute von der VP waren taub. Wir wurden dann mit mehreren Autos auf irgendein VP-Revier transportiert. Dort mußten wir einzeln unsere Personalien ansagen und die Personalausweise abgeben. Auch dort habe ich die VP darauf hingewiesen, daß ich ein Kind von 12 Jahren bei mir habe, wieder keine menschliche Reaktion. Vor den Augen des Kindes wurde ein Mann auf
dem Hof von der VP ins Gesicht geschlagen und mit Knüppeln von drei weiteren VP geprügelt. Mein Sohn weinte die ganze Zeit und hatte furchtbare Angst, auch solche Prügel zu beziehen. Er flüsterte mir öfter voller Angst zu „Mutti, bitte sei ruhig, Mutti, bitte sag nichts“. Dann mußten wir, ich weiß nicht wie lange, in einer Garage mit dem Gesicht zur Wand stehen. Später wurde ich zusammen mit meinem Sohn von der
Kripo oder Stasi verhört, und es wurde ein zwei Seiten langes Protokoll geschrieben. Inzwischen war es bereits ca. 24.00 Uhr. Anschließend mußten wir wieder in dieser Garage mit dem Gesicht zur Wand stehen. Später, ca. um 1.00 Uhr, mußten wir wieder auf die LKW der VP. Danach wurden wir in die Haftanstalt nach Rummelsburg gefahren. Mein Sohn hat auf diesem offenen LKW gefroren, war übermüdet und total verängstigt. Eine Stunde saßen wir auf diesem kalten LKW, bis man mich mit meinem Kind rausholte.
Dann wurde mein Kind wie ein Schwerverbrecher mit der Nummer 48 auf der Brust fotografiert und registriert. Nachdem man meine Personalien nochmals aufgenommen hatte, wurde dann entschieden, daß ich mit meinem Sohn nach Hause darf. Es war inzwischen 3.00 Uhr, und wir befanden uns in Rummelsburg. Ich hatte kein Geld bei mir, und die öffentlichen Verkehrsmittel fuhren zu dieser Zeit auch nicht. Ein fremder Autofahrer fuhr uns dann bis vor unsere Haustür.
Ich bin über diese Behörden, die eigentlich unsere Freunde und Helfer sein sollten, dermaßen empört und weiß nicht, wie ich dieses zum Ausdruck bringen kann! Ich möchte, daß die Öffentlichkeit erfährt, daß unser angeblich "„kinderfreundlicher Staat“ keine Rücksicht auf ein 12jähriges Kind genommen hat. Für mich gibt es nur noch den Wunsch, diesen Staat so schnell wie möglich zu verlassen. Ich möchte nicht eines Tages zusehen müssen, wie einer meiner Söhne auf der Straße zusammengeprügelt wird.
Ich denke auch an die vielen Jugendlichen, die jetzt im Gefängnis sitzen.
Ich bedanke mich bei der Gemeinde, daß man bei Ihnen Menschen findet, die ein offenes Ohr für ihre Mitmenschen haben.

(Namen sind der Redaktion bekannt)


Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

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