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Revolution 89 - Friedensgebete und Montagsdemonstrationen_RHG_Fak_0119_a

„Es muß was geschehn …“: Artikel von Katharina Führer über das Friedensgebet am 11. September 1989 in der Leipziger Nikolaikirche und die anschließenden brutalen Übergriffe der Polizei auf die Teilnehmer des Friedensgebets (11. September 1989)....
„Es muß was geschehn …“: Artikel von Katharina Führer über das Friedensgebet am 11. September 1989 in der Leipziger Nikolaikirche und die anschließenden brutalen Übergriffe der Polizei auf die Teilnehmer des Friedensgebets (11. September 1989). Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft, Seite 2 von 2


Abschrift:

Artikel von Katharina Führer über das Friedensgebet am 11. September 1989 in der Leipziger Nikolaikirche und die anschließenden brutalen Übergriffe der Polizei auf die Teilnehmer des Friedensgebetes

„Es muss was geschehen...“

Heute wurden wir Zeugen des bisher härtesten Polizeieinsatzes nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche. Bereits mittags wurde auf dem gegenüberliegenden „Brühlpelz“ die Kamera montiert, wurde der gesamte Kirchplatz gesperrt, Autos abgeschleppt. Seit dem frühen Nachmittag stehen Motorräder der Polizei auf dem Platz, während Friedensgebetbesucher von außerhalb gewarnt werden, in die Nikolaikirche zu gehen, dies bliebe nicht ohne Konsequenzen. In der Stadt gibt es Kontrollen. Nach dieserart umfangreichen Vorbereitungen kann um 17.00 Uhr das Friedensgebet beginnen. Das Kirchenschiff und die erste Empore haben sich gefüllt, unser Landesbischof persönlich begrüßt die Montagsgemeinde, gemahnt zu friedlichem Nachhausegehen nach Beendigung der Andachtsstunde. Superintendent Magirius verliest den Brief der evangelischen Kirchenleitungen an den Generalsekretär, in dem es u.a. heißt, dass um „offene und wirklichkeitsnahe“ Diskussionen über die Ursachen von Unzufriedenheit und Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft“ gebeten wird. Es wird geklatscht, danach gesungen, Pfarrer Führer predigt über einen alttestamentlichen Text, der davon erzählt, dass Gott uns immer gerade dann seine helfende Hand reicht, wenn es nach menschlichem Ermessen keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Wir singen, halten Fürbitte und erheben uns zum Segen. Ruhig verlassen die über 1000 Menschen die Kirche, von der Hoffnung ermutigt, die der Pfarrer ausspricht: Wir lassen uns von niemandem einreden, unser Friedensgebet würde mißbraucht, denn dieses Gotteshaus ist ein Haus der Hoffnung und soll es bleiben, offen für alle. Kleine Grüppchen stehen auf dem Kirchplatz. Es wird geschwatzt, geraucht, man sucht Bekannte. Die schaulustige Leipziger Bevölkerung hat sich auch heute außerhalb der dichten Reihen Bereitschaftspolizei versammelt. Hunde bellen, eine Stimme aus dem Megaphon eines der grünen Wagen ist zu vernehmen: „Bürger! Verlassen Sie den Nikolaikirchhof Bei Nichtbefolgen polizeiliche Maßnahmen!“ Sie wird übertönt durch Buhrufe und lautes Pfeifen von inner- und auch außerhalb der Barrieren aus Menschen. Stehen. Warten. Die Aufforderung der Polizei wird mehrfach wiederholt, sie richtet sich nun auch an die Menschen, die in den Seitenstraßen stehen: „Behindern Sie nicht unsere Maßnahmen! Ich lasse die Straße räumen!“ Einige wenige gehen. Nun erfolgen die „Maßnahmen“. Die kaum bereiten Bereitschaftspolizisten, die uns nicht in die Augen sehen können, werden von den in der zweiten Reihe stehenden Grauhemden, die wohlbestückte Schultern erkennen lassen, und den „Unauffälligen“ mittels gebrüllter Befehle und drängender Hände auf die Menge zugeschoben. Sie kreisen die Gruppe ein. Immer enger. Die „Hintermänner“ greifen sich indessen einzelne aus der Masse heraus. Teilweise erscheint dies gezielt – teilweise ohne System – vor sich zu gehen. Jeweils drei Polizisten schleifen eine/n weg. Wer sich wehrt, wird an den Haaren fortgezogen, Hände werden auf dem Rücken zusammengedreht, Finger werden umgebogen. Manche lassen sich schweigend abführen, andere werden auf die LKWs getragen, Schreie von Frauen, Männern und auch Kindern werden laut.
Es gelingt den Abgedrängten nicht, schon Festgenommene wieder freizubekommen – wie am vergangenen Montag. Dabei schallen keine Sprechchöre über den Platz, keine Spruchbänder werden entrollt. Weiter – in die kleine Nebenstraße. Ich bemerke einen Mann im Rollstuhl, der über den nunmehr fast leeren Nikolaikirchhof geschoben wird. Er kommt nirgendwo durch. Gegen seinen Willen wird er, barsch angefahren, in die Gegenrichtung weggeschoben, von einem Uniformierten. Der ihn Begleitende wird an seinem bandagierten (Gips-?) Arm – was ihm große Schmerzen zu bereiten scheint – auf einen der heranfahrenden Mannschaftswagen gezerrt. Binnen einer Stunde sind alle Friedensgebetbesucher abgedrängt – oder aufgeladen. (An Montagen, an denen die Polizei nicht zugegen war, zerstreuten sich die Menschen nach spätestens einer halben Stunde in verschiedene Richtungen. Wer provoziert hier eigentlich wen ?).
Am Abend hören wir die Berichte von der österreichisch-ungarischen Grenze. Noch mehr Menschen werden unser Land verlassen. Was aber tun denn wir, die wir noch (?) hier sind ?
Leipzig, 11.9.89

Heute – the day after - erfahren wir von über 100 Verhaftungen. Einer, der am Nachmittag wieder freikommt, erzählt.
Alle werden in die Harkortstraße gebracht, wo bei korrekter Behandlung Protokolle aufgenommen werden. Gegen Mitternacht fährt man sie in eine Turnhalle nach Paunsdorf, einen Außenbezirk von Leipzig. Sie lagern sich auf den Matten, bekommen Bockwurst und Brötchen, Tee. Zwischen vier und fünf Uhr morgens entläßt man die ersten. Kalter Tee am Vormittag. Schroffe bis freche Bemerkungen der Wachhabenden, sie begleiten zur Toilette, Waschgelegenheiten gibt es keine. 14.00 Uhr etwa verabreicht man den Zugeführten eine Bratwurst mit Brötchen, sie werden zurück in die Harkortstraße gebracht. Nach einem Schnellermittlungs-verfahren, zu dem ein Staatsanwalt hinzugezogen wird, werden gemäß § 217 wegen „Zusammenrottung“ Geldstrafen von 3000 bis 5000 M erhoben. Die gesetzliche Höchststrafe jedoch beträgt 500 M. Bisherige Erfahrungen ergeben: Die Leute, verständlicherweise froh, wieder „draußen“ zu sein, zahlen, ohne eine schriftliche Aufforderung erhalten zu haben. Andernfalls wird eine zweijährige Haftstrafe angedroht.
Es sind noch nicht alle frei.

„Alle, die von Freiheit träumen
sollen’s Feiern nicht versäumen
sollen tanzen auch auf Gräbern –
Freiheit
ist die einzige, die fehlt ...“

(Unterschrift)
Katharina Führer

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