d

Prag 68 - Protestzug durch Lübbenau_RHG_Fak_0823a

Im Oktober 1968 findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit der Prozess gegen Volker Rennert, Achim Schiemenz und Klaus-Dieter Wanske statt, die in den Augen von Polizei und Staatssicherheit die Anstifter der Protestdemonstration sind. Achim Schiemenz,...
Im Oktober 1968 findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit der Prozess gegen Volker Rennert, Achim Schiemenz und Klaus-Dieter Wanske statt, die in den Augen von Polizei und Staatssicherheit die Anstifter der Protestdemonstration sind. Achim Schiemenz, kurz zuvor 18 Jahre alt geworden, wird zu anderthalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, die beiden anderen 17-Jährigen zu einem Jahr und vier beziehungsweise einem Jahr und zwei Monaten. Urteil gegen Hans-Joachim Schiemenz, Klaus-Dieter Wanske und Volker Rennert. Quelle: Privat-Archiv Achim Schiemenz, Seite 1 von 13


Abschrift:

Urteil gegen Hans-Joachim Schiemenz, Klaus-Dieter Wanske und Volker Rennert. Quelle: Privat-Archiv Achim Schiemenz.

Ausfertigung

7 S 125/68
KI a 158/68

U r t e i l

Im Namen des Volkes !

In der Strafsache
gegen

1.) den Maschinisten Hans-Joachim Schiemenz,
geb. am 13. 8. 1950 in Lübbenau,
wohnhaft in Lübbenau, Schulstr. 6,
z. Zt. seit 24. 8. 1968 in U-Haft, UHA MfS,

2.) den Lehrling Klaus-Dieter Wanske,
geb. am 19. 9. 1950 in Lübbenau,
wohnhaft in Lübbenau, Wiesenstr. 10,
z.Zt. seit 24. 8. 1968 in U-Haft, UHA MfS,

3.) der Schüler Volker Rennert,
geb. am 18. 7. 1951 in Lübbenau,
wohnhaft in Lübbenau, Aug.-Bebel-Str. 17,
z.Zt. seit 26. 8. 1968 in U-Haft, UHA MfS,

zu 1.) bis 3.) vertreten durch Rechtsanwalt Körner als Verteidiger

wegen Zusammenrottung und Staatsverleumdung

hat die Strafkammer des Kreisgerichts Cottbus-Stadt in der Sitzung vom 11. u. 14. 10. 1968, an der teilgenommen haben

Richter W. Richter
als Vorsitzender,

Hausfrau Hildegard Kleo
Angestellter Horst Schultka,
als Schöffen

Staatsanwalt Schöne,
als Vertreter des Kreisstaatsanwalts,

Abgeordneter Gerhard Hause,
als gesellschaftlicher Ankläger,

Justizangestellte Liebike/ Adam,
als Protokollantinnen

für Recht erkannt:

Die Angeklagten sind der gemeinschaftlichen Organisierung einer Zusammenrottung gem. § 217 Abs. 2 StGB und in Tateinheit damit der Staatsverleumdung gem. § 220 Abs. 1 Ziff. 1 StGB, die Angeklagten Wanske und Rennert i.V.m. §§ 65, 66 StGB

s c h u l d i g .

Der Angeklagte Schiemenz wird zu
einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe
verurteilt.

Der Angeklagte Wanske wird zu
einem Jahr und vier Monaten Freiheitsstrafe
verurteilt.

Der Angeklagte Rennert wird zu
einem Jahr und zwei Monaten Freiheitsstrafe
verurteilt.

Die Auslagen des Verfahrens haben die Angeklagten als Gesamtschuldner zu tragen.


G r ü n d e

Der zur Zeit der Tat gerade 18-jährige Angeklagte Schiemenz hat 1967 die 10. Klasse erfolgreich abgeschlossen und ein Jahr später die Ausbildung als Maschinist für Tagebaugeräte beendet, da er während der letzten beiden Schuljahre bereits eine Berufsausbildung erhielt. Er arbeitet seitdem im VEB Braunkohlenwerk Jugend im Tagebau Seese. Er arbeitet auf einem Abraumbagger und wollte jetzt einen Lehrgang als Klappenschläger abschließen. Seine Vorstellungen über die weitere berufliche Ausbildung gingen über eine Tätigkeit als Baggerführer zum Meister, wobei er auch den Gedanken hatte, eine Fachschulausbildung zum Ingenieur für Tagebaugeräte später einmal aufzunehmen.

Im Gegensatz zu seinen klaren Vorstellungen beruflicher Art und seiner Arbeit ohne Mängel stehen seine gesellschaftlichen Auffassungen sowie seine gesellschaftliche Entwicklung und sein Freizeitverhalten.

Er wurde 1959 Mitglied der Pionierorganisation und trat 1964 der FDJ bei. An der Arbeit der FDJ nahm er nur im geringen Umfange teil und stellte erst kürzlich einen Austrittsantrag, mit der Begründung, daß in diesem „Verein“ nichts los sei.
In der Freizeit beschäftigte er sich im geringen Umfang mit Lesen und Malen, meist aber gemeinschaftlich mit einigen gleichgesinnten Jugendlichen mit Beatmusik, die gemeinschaftlich von Westsendern abgehört und in einer Beatgruppe nichtöffentlich auch gespielt wurde. Obwohl er keine richtige Ausbildung hat, spielt er in dieser Gruppe Gitarre. Geübt und gespielt wurde in einem unbenutzten Lagerraum der Brauerei des Großvaters des Jugendlichen Rennert. Der Angeklagte Schiemenz ist Mitglied der „Jungen Gemeinde“ in Lübbenau und besucht regelmäßig deren Zusammenkünfte.

Durch sein Interesse an Beatmusik orientierte sich der Angeklagte vorwiegend auf Westsender und hörte auch oft die zwischen den Musiksendungen liegenden Hetzsendungen der Sender Luxemburg, SFB usw.
Von seinem Elternhaus, wo er in geordneten Verhältnissen aufwuchs, wurden Einflüsse auf ihn ausgeübt zur Verbesserung seiner Ausbildungsergebnisse, hinsichtlich seines Freizeitumganges und ﷓verhaltens und auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Der Angeklagte schloß sich jedoch sehr eng an die Jugendlichen seines Freizeitumgangs an und nahm die Einflüsse seiner Eltern nicht ernst genug.

Der zur Zeit der Tat 17-jährige Angeklagte Wanske ist der Sohn eines selbständigen Gewerbetreibenden. Sein Vater besitzt ein Gemüsegeschäft und ist Kommissionspartner des staatlichen Handels. Dadurch wuchs der Jugendliche in finanziell guten Verhältnissen auf. Er schloß 1967 die 10. Klasse mit der Note „Befriedigend“ ab und nahm eine Lehre als Fotograf bei einem Cottbuser Fotoatelier auf. Obwohl er während der Schulzeit zuletzt sowohl in den Leistungen wie in seiner Disziplin Mängel hatte, war er in der Lehre interessiert, so daß sein Vater annahm, daß er seine Schwäche der Oberflächlichkeit überwunden habe.
Hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Haltung und seinem Freizeitverhalten gab es jedoch die gleichen Erscheinungen wie beim Mitangeklagten Schiemenz. Zu einem geringen Teile beschäftigte er sich in der Freizeit mit Fotografieren, wobei er auch selbst entwickelte. Zu einem weiteren Teile war er sportlich interessiert, ohne sich aber einer Gemeinschaft anzuschließen und regelmäßig mitzutun. Zum großen Teil hielt er sich aber mit einer Reihe gleichgesinnter Jugendlicher in der Stadt Lübbenau auf und beteiligte sich auch als Sänger an der Beatgruppe.

Während der Schulzeit war er seit 1958 Mitglied der Pionierorganisation, lehnte aber einen Eintritt in die FDJ ab, weil er der Meinung war, daß ihn das nicht interessiere. Als Mitglied der „Jungen Gemeinde“ nahm er in Abständen an den Zusammenkünften teil.
Durch sein Interesse an der Beatmusik orientierte er sich am Westfernsehen und an Westsendern, wobei er nicht nur Musik-, sondern auch andere Sendungen ansah und hörte und dadurch auch Hetzsendungen abhörte. Er hatte jedoch nach eigenen wie nach Angaben seines Vaters nur ein geringes gesellschaftliches Interesse.
Vom Elternhaus wurde auf den Jugendlichen vorwiegend nur hinsichtlich des äußerlichen Verhaltens Einfluß genommen. Die Erziehung zur Selbständigkeit beschränkte sich im wesentlichen auf Hinweise. Ein nachhaltiger Einfluß zur gesellschaftspolitischen Entwicklung des Jugendlichen wie auf sein Freizeitverhalten und seinen Umgang wurde nicht genommen.

Insgesamt war die Einstellung des Jugendlichen westlich orientiert nach seinem Haarschnitt, seiner Kleidungsweise, seinem Beatinteresse nach. Er hatte zwar auch Interesse an klassischer Musik, wozu in der Familie eine umfangreiche Schallplattensammlung existierte. Durch seine Briefpartner in Westdeutschland und Großbritannien sowie durch Verwandte und Bekannte besorgte er sich auch Beatschallplatten und sammelte Bilder von sogenannten Beatles.

Der 17-jährige Angeklagte Rennert entstammt einer Arbeiterfamilie. Sein Vater ist Zugführer bei der Deutschen Reichsbahn, seine Mutter arbeitet als Abfüllerin in der Brauerei und dem Bierverlag des Großvaters des Jugendlichen.
Der Jugendliche besuchte von 1958 bis 1968 die Schule und schloß sie in diesem Jahr mit der 10. Klasse mit dem Durchschnitt „Genügend“ ab. Eine Zeit lang war er wegen akuter Sprachstörungen in die Sprachheilschule Cottbus umgeschult, war aber im letzten Jahr der schulischen Ausbildung nach Behebung seiner Sprachstörungen im Wesentlichen wieder in Lübbenau. Im letzten Jahr der Schule entsprachen seine Leistungen nicht seinen Fähigkeiten was zu einem Teile auf seine Umschulung bzw. seine sprachlichen Hemmungen, andererseits aber auf sein mangelhaftes Lerninteresse zurückzuführen ist.
Er hatte jetzt die Absicht, eine Ausbildung als Baumaschinist beim VEB Tiefbaukombinat Cottbus aufzunehmen, da ein Lehrverhältnis als Kfz-Schlosser beim VEB KIB Cottbus wegen seiner Leistungen nicht zustande kam.
Während der Schulzeit war er Mitglied der Pionierorganisation, ein Eintritt in die FDJ erfolgte nicht, da er dazu kein Interesse hatte und andererseits das auch von der Klassengruppe der FDJ abgelehnt wurde.
Der Jugendliche hatte zu Hause kaum Pflichten. In der Freizeit ging er bisher keinen regelmäßigen Interessen nach. Er trieb vorübergehend Sport wie Boxen, Tischtennis, gab das aber bald wieder auf. Charakteristisch ist für den Jugendlichen lediglich ein Interesse an Beatmusik, dem er jedoch auch nicht so weitgehend nachging, daß er selbst ein Instrument spielte. Er besuchte verhältnismäßig häufig die Übungen der Beatgruppe, der auch die Mitangeklagten angehörten, hielt sich öfter in Wohnungen gleichgesinnter Jugendlicher auf, wo von Westsendern Beatmusik empfangen wurde. Außerdem spielte er dort mit Jugendlichen Skat. Er ist gleichfalls Mitglied der „Jungen Gemeinde“ und besucht in Abständen deren Zusammenkünfte.

Vom Elternhaus wurde hinsichtlich seiner Freizeitgestaltung, seines Umgangs wie auch hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Entwicklung nur durch einige Hinweise Einfluß genommen, die im Wesentlichen ohne Wirkung blieben.
Durch sein Beatinteresse sammelte er ebenso wie die Mitangeklagten Bilder von den sogenannten Beatles, hörte ständig zum Teil allein, zum Teil gemeinsam mit anderen Jugendlichen Beatmusiksendungen von Westsendern ab und orientierte sich auch ansonsten fast ausschließlich durch Westsendern, so daß er auch Hetzsendungen zur Kenntnis nahm.

Obwohl alle drei Angeklagten in der Hauptverhandlung von sich behaupteten, politisch uninteressiert zu sein und Westsender nur wegen der Musik gehört zu haben, hatten sie aber im Wesentlichen zur Kenntnis genommen, was diese Sender zur Entwicklung in der CSSR seit Jahresanfang gebracht hatten. Sie waren deshalb der Meinung, daß in der CSSR ein „freies“ Leben der Bevölkerung gegeben sei, was sie daraus ableiteten, daß dort Beatmusik ungehindert gehört, auf Platten vertrieben und in Klubs gespielt würde. Außerdem hatten sie davon gehört, daß die Grenze nach Westdeutschland geöffnet worden sein sollte. Der Jugendliche Wanske hatte außerdem bei einem Touristenaufenthalt im Juli 1968 mit seinen Eltern aus Gesprächen mit einem tschechischen Studenten sich diese Meinung gebildet.

Durch Westsender erhielten alle drei Angeklagte auch Kenntnis, daß am 21. 8. 1968 Truppen der Staaten des Warschauer Vertrages das Territorium der CSSR betreten hatten. Sie machten sich alle die von den Westsendern dazu gesendete wüste Hetze als tatsächliche Ereignisse zu eigen, ohne auch sich nur die Mühe zu machen, sich durch Kenntnisnahme der Erklärungen der Regierungen der Staaten des Warschauer Vertrages bzw. der DDR-Regierung und des ZK der SED exakt zu informieren. Der Jugendliche Rennert hatte die Zweckmeldung des Senders „Freies Berlin“, nach der der 1. Sekretär des ZK der KPC verhaftet und in die UdSSR gebracht worden sei, gehört und später auch über diesen Sender gehört, daß man ihn umgebracht habe.
Er war der Auffassung, daß man etwas tun müßte und sprach mit anderen Jugendlichen im Laufe des 23. 8. 1968 – etwa 15 – 18 an der Zahl – und forderte sie auf, am Abend des nächsten Tages sich auf dem Marktplatz in Lübbenau einzufinden. Bei dieser Aufforderung hatte er sich nur an ihm bekannte Jugendliche gewandt und diesen gesagt, daß es sich um die Ereignisse in der CSSR handeln würde. Er hatte auch aufgefordert, die Mitteilung selbständig weiterzugeben.
Er selbst hatte die Vorstellung, eine Diskussion zu führen, die auf der Grundlage der Hetzmeldungen der Westsender geführt werden sollte. Er hatte sich weder an ihm bekannte Erwachsene, noch an Jugendliche gewandt, von denen er tatsächlich Aufklärung erwarten konnte.

Durch Gespräche mit Rennert bzw. anderen Jugendlichen waren die Mitangeklagten im Laufe des 23. 8. 1968 von dem vorgesehenen Treffen von Jugendlichen auf dem Marktplatz unterrichtet worden und hatten ihrerseits jeweils noch andere Jugendlichen zur Teilnahme aufgefordert. Wanske hatte etwa drei Jugendliche und Schiemenz hatte etwa 12 – 15 Jugendliche dieserhalb angesprochen.
Am Abend des 23. 8. 1968 fanden sich 6 Jugendliche in der Wohnung des Zeugen Fred Schulz ein, wobei Rennert nicht anwesent war. Unter anderem wurde auch über das bevorstehende Treffen am nächsten Abend gesprochen und Wanske machte den Vorschlag, Plakate bzw. Transparente zu fertigen und mitzubringen. Außerdem sollte eine CSSR-Staatsflagge genäht werden. Wanske machte auch mehrere Vorschläge für die Gestaltung der Plakate, indem er als Losungen vorschlug: „Amis raus aus Vietnam, Sowjets raus aus der CSSR“, „Ist 1968 ein neues 1938?“, „Völkerrecht wirklich unantastbar?“. Diese Losungen wurde[n] jedoch als zu kraß und zu deutlich verworfen, wobei hauptsächlich Schiemenz diese Meinung vertrat, da er befürchtete, bei einer möglichen Ergreifung durch die Sicherheitsorgane mit einem solchen Plakat zu hart bestraft zu werden. Er machte deshalb den Vorschlag, eine Landkarte mit den Umrissen der CSSR zu malen, an der Stelle, wo Prag liegt, einen Funkmast einzuzeichnen und um diesen herum SOS-Zeichen als Hilferufe. Außerdem sollte auf das Plakat die Losung: „Völker hört die Signale.“ Mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden und der Angeklagte Schiemenz malte zwei solcher Plakate, die er am folgenden Tage mitbrachte.
Vorschläge von Wanske und anderen Jugendlichen Knallkörper aus Unkrautex und Benzinflaschen mitzubringen, wurden als zu gefährlich verworfen.
Von Schiemenz wurde noch der Vorschlag gemacht, das Treffen auf 19.00 Uhr festzusetzen, zu diskutieren und danach durch die Stadt zu marschieren. Dazu wurde vereinbart, auch Rufe wie: „Amis raus aus Vietnam,“ „Ho Chi Minh“ abzugeben, um nicht sofort aufzufallen und aufgelöst zu werden.

Am Abend des 24. 8. 1968, einem Samstag, hatten sich etwa 40 – 50 Jugendliche, darunter die drei Angeklagten auf dem Markplatz versammelt. Da eine Diskussion nicht zustande kam, liefen sie zunächst ungeordnet zum Ausgang des Marktes in Richtung Neustadt, formierten sich dort und marschierten los. Der Marschweg führte über etwa 2,5 km durch die Stadt, wobei schließlich wieder in Richtung Marktplatz marschiert wurde. Der Zug wurde dann von den Sicherheitsorganen aufgelöst. Während des Marsches hatten die Jugendlichen und auch alle drei Angeklagten neben den genannten Äußerungen auch wiederholt von 1 bis 9 gezählt und danach „Dubcek“ gerufen. Die Angeklagten erklärten dazu, daß sie deshalb diesen Namen gerufen haben, weil sie von dessen Verhaftung überzeugt waren und sich für seine Freilassung einsetzen wollten. Außerdem wollten sie damit ihre Sympathie und Solidarität für die Entwicklung in der CSSR bis zum 21. 8. 1968 zum Ausdruck bringen und gegen den Einmarsch der Truppen der Länder des Warschauer Vertrages protestieren.

Schiemenz hatte die zwei von ihm gemalten Plakate zwar mitgebracht, aber einige Zeit nur unter der Kleidung bei sich getragen. Er gab sie danach an andere Jugendliche weiter, von denen sie auch hoch erhoben zeitweise getragen wurden. Am Bahnhof sollte eines dieser Plakate angeheftet werden. Sie wurden jedoch schließlich zerrissen.

Dieser Sachverhalt beruht auf den Einlassungen der Angeklagten, dem vorliegenden Beweismaterial, den Aussagen der Zeugen Bäde, Große, Schulz, Düring, Veith, der Vernehmung der Väter der jugendlichen Angeklagten Rennert und Wanske sowie der Stellungnahme des Vertreters des Referats Jugendhilfe Calau, Quack.

Nach diesem Sachverhalt war zunächst die Schuldfähigkeit der Jugendlichen zu prüfen. Nach Auffassung der Strafkammer waren sich alle drei Angeklagte über den Charakter ihres Handelns klar. Sie sind alle an der Grenze der Volljährigkeit, Schiemenz war am Tattage genau 18 Jahre alt, Wanske hat etwa vier Wochen später das 18. Lebensjahr vollendet und Rennert war zur Tatzeit im 18. Lebensjahr. Alle drei Angeklagten haben die 10. Klasse abgeschlossen, wobei auch durch ihre Angaben festgestellt wurde, daß vorhandene unterdurchschnittliche Leistungen nicht ihrem Leistungsvermögen entsprachen. Sie sind alle in unserem Staat aufgewachsen, haben in ihrer Ausbildung Staatsbürgerkundeunterricht erhalten und sind dabei auch über Charakter und Rolle der imperialistischen Hetzsender aufgeklärt worden.
Wenn sie dennoch den Hetzparolen des Klassengegners folgten, sind sie dafür verantwortlich, soweit ihr Verhalten gegen Strafgesetze verstößt. Daß dies der Fall war, wußten sie genau, denn in der Beratung am 23. 8. 1968 wurden Möglichkeiten erörtert, bei einer Auflösung bzw. Ergreifung wenig Angriffspunkte zu bieten. Rennert, der bei dieser Besprechung nicht dabei war, ging zwar zunächst nur von der Absicht einer größeren öffentlichen Diskussion aus, ihm kam es aber auch nur auf die Verbreitung der in Westsendern gehörten Hetzmeldungen an, wovon er wußte, daß dies strafbar ist. Deshalb wandte er sich nur an solche Jugendliche, deren Einstellung er kannte.
Aus der Aussage des Zeugen Düring ergab sich, daß Rennert, der Düring in dessen Wohnung am Vormittag des 23. 8. 1969 aufsuchte und von dem Treffen am nächsten Tag unterrichten wollte, zunächst nicht davon sprach, als er Wanske dort in der Wohnung feststellte, den er nur flüchtig kannte. Erst als Düring ihm versicherte, er könne ruhig sprechen, brachte Rennert seine Aufforderung vor.

Zur Steuerungsfähigkeit der Jugendlichen ist festzustellen, daß diesbezüglich keine Beeinträchtigungen feststellbar waren, vielmehr sind vor allem die schulischen und beruflichen Leistungen der Angeklagten Beweis dafür, daß sie imstande sind, erkannte Notwendigkeiten in ihrem Verhalten zielstrebig zu berücksichtigen. Vor allem Rennert hat das bewiesen, da er aus Nachlässigkeit in seinen Leistungen stark abgefallen war, jedoch auf Einflüsse der Schule wie auch seines Vaters die 10. Klasse noch abschließen konnte.

Das Verhalten der Angeklagten ist eine gemeinschaftliche Organisierung einer Zusammenrottung gem. § 217 Abs. 2 StGB in Tateinheit mit Staatsverleumdung gem. § 220 Abs. 1 Ziff. 1 StGB.

Rennert hat durch das Ansprechen von Jugendlichen als Initiator dieses Treffens die Zusammenkunft ausgelöst, indem er nacheinander ihm gleichgesinnte Jugendliche ansprach und aufforderte, die Mitteilung vom Treffen weiterzugeben.
Er hat durch seine Teilnahme am Treffen, am Marsch sowie durch Mitwirkung am Sprechchor, die Maßnahmen der DDR-Regierung zur Hilfe und Unterstützung des tschechoslowakischen Volkes gegen die Konterrevolution öffentlich verächtlich gemacht, indem er sie als ungesetzliche Handlungen, gegen die zu protestieren sei, hinzustellen bemüht war.
Wanske und Schiemenz haben gleichfalls nach Kenntnisnahme von der Absicht eines solchen Treffens nicht nur ihre Teilnahme zugesagt, sondern sich die Idee so zu eigen gemacht, daß sie auch andere Jugendliche zur Teilnahme aufforderten, sich in einer Beratung Gedanken über Ausgestaltung und Ablauf des Treffens machten. Sie haben durch Teilnahme am Treffen, am Marsch, am Sprechchor sowie durch Beratung und Anfertigung der später gezeigten Plakate gleichfalls die Hilfsmaßnahmen der Länder des Warschauer Vertrages gegen die Konterrevolution in der CSSR – und damit die Maßnahmen der dabei beteiligten Regierung der DDR – in der Öffentlichkeit verächtlich gemacht. Sie haben auf der Grundlage von Hetzsendungen westlicher Sender eine als Protestmarsch erkennbare Demonstration durchgeführt und waren bemüht dadurch die Hilfsmaßnahmen als völkerrechtswidrigen Akt hinzustellen, gegen den die Weltöffentlichkeit um Hilfe gerufen werde.

Zur Ursache des Verhaltens der Angeklagten vertritt die Strafkammer die Meinung, daß es sich dabei um ein deutlich sichtbares Ergebnis der psychologischen Kriegführung handelt. Dabei spielt sowohl die durch die Ereignisse nach dem 21. 8. 1968 maßlos gesteigerte Hetze des Klassengegners eine wesentliche Rolle, als auch die schon zuvor betriebene ideologische Einflußnahme, die an das Interesse der Jugendlichen für rhyt[h]mische Musik anknüpfte. Durch die künstlich hochgespielte Beatmusik und den darum errichteten Kult wurden auch bei den Angeklagten übersteigerte Interessen gezüchtet. Sie vernachlässigten dadurch andere, sinnvolle Arten der Freizeitgestaltung und zum Teil sogar ihre schulischen und beruflichen Pflichten, wie das bei Wanske und Rennert festzustellen war. Dadurch wurde auch bewirkt, daß sich die Angeklagten westlich orientierten, nicht nur Musiksendungen in den Westsendern hörten, sondern auch die raffiniert zwischen die Musik eingestreuten Wortsendungen. Sie wurden dadurch irregeleitet und nahmen neben der Verbildung ihres kulturellen Geschmacks auch eine bewußt unpolitische, ja sogar ablehnende gesellschaftliche Haltung ein.
Auf dieser Basis führte die im Zusammenhang mit den Hilfsmaßnahmen maßlos gesteigerte Hetze durch Westsender zu einer Geneigtheit bei den Jugendlichen etwas zu tun, zu protestieren. Dabei behielt glücklicher Weise die Vernunft bei ihnen soweit die Oberhand, daß von erwogenen Gewalttätigkeiten Abstand genommen wurde. Es bestand jedoch die Absicht, auch nach dem 24. 8. 1968 erneut Zusammenrottungen vorzubereiten.

Zur Haltung der Angeklagte, die Grundlage für ihr Handeln am 23. und 24. 8. 1968 ist, konnte es begünstigend kommen, weil in den Elternhäusern von ihnen es nicht verstanden wurde, die Grundsätze sozialistischer Erziehung zu beachten, bzw. durchzusetzen. Nach diesen Grundsätzen (§ 42 Familiengesetzbuch) ist es die Pflicht der Eltern die Kinder zu geistig und moralisch hochstehenden und körperlich gesunden Persönlichkeiten heranzubilden, die die gesellschaftliche Entwicklung bewußt mitgestalten. Durch verantwortungsbewußte Erfüllung der Erziehungspflichten, durch eigenes Vorbild und durch übereinstimmende Haltung gegenüber den Kindern sollen die Eltern ihre Kinder zur sozialistischen Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen, zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen Patriotismus und Internationalismus erziehen. Diese Pflichten werden nicht erfüllt, wenn ständiges Abhören von Westsendern und ständiges Westfernsehen zugelassen wird oder lediglich Ablehnung erfolgt, die nicht mit ständiger erzieherischer Einflußnahme im Sinne der Sache des Sozialismus einhergeht.

Die drei Angeklagten sind einerseits irregeleitet von der Hetze des Klassengegners. Sie haben aber trotz richtiger Orientierung in der Schule nicht nur ihr Ohr dem Klassengegner geliehen und sich dadurch eine falsche Meinung gebildet, sondern aktiv und konkret im Sinne der Hetze des Klassengegners gehandelt. Solche Handlergerdienste [Handlangerdienste] für den Klassengegner sind in ihrer Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen. Die Angeklagten haben bewußt die Hetze der Westsender zu verbreiten versucht. Sie haben durch ihr Handeln die Ordnung und Sicherheit und auch das Ansehen und die Autorität des Staates und seiner Regierung angegriffen. Sie haben gegen ihre eigenen Klasseninteressen […] die sozialistische Gesellschaft gehandelt, die ihnen alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklung bietet und bot.

Nur mit Rücksicht auf die speziellen Umstände ihres Handelns kann ihr Tun nach den genannten gesetzlichen Bestimmungen geahndet werden. Sie haben aus einer noch ungefestigten Einstellung gehandelt, wobei ihr Alter und die Entwicklung der Angeklagten zu solchem Handeln zu beachten ist. Dank der Wachsamkeit der Sicherheitsorgane wurde ihr Tun kurzfristig und wirksam unterbunden, so daß auch von den Folgen her es möglich ist, daß ihr Verhalten als Angriff auf Ordnung und Sicherheit sowie die staatliche Ordnung, nicht aber als Angriff auf die Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung gewertet werden kann.

Es war jedoch notwendig, nach dem Grad der Gefährlichkeit ihrer Straftat diefferenzierte Freiheitsstrafen auszusprechen. Der Angeklagte Schiemenz hat 12 bis 15 Jugendliche zur Teilnahme am Treffen aufgefordert, hat ein Programm für das Treffen und den Gedanken eines Marsches durch die Stadt entwickelt und zwei Plakate gemalt. Für ihn wurde antragsgemäß auf eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten erkannt.
Der Angeklagte Wanske hat mindestens drei Jugendliche zur Teilnahme aufgefordert, hat das Programm für das Treffen maßgeblich mitberaten und von ihm kam auch der Vorschlag für die Anfertigung von Plakaten. Für ihn wurde gleichfalls antragsgemäß eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten festgelegt.
Der Jugendliche Rennert hatte die Idee zur Durchführung des Treffens und hat selbst 15 bis 18 Jugendliche zur Teilnahme aufgefordert. Die weitere Gestaltung des Treffens wurde jedoch nicht von ihm vorgenommen, so daß nach Meinung des Gerichts deswegen in Abweichung vom Antrag des Staatsanwaltes eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten als erforderlich, aber auch ausreichend erachtet wurde.
Diese Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit muß für die Angeklagten Veranlassung sein, Schlußfolgerungen aus ihren bisherigen Fehlern zu ziehen. Sie müssen erkennen, daß sie nicht ungestraft die Autorität des Staates antasten können. Sie müssen weiter die Einsicht gewinnen, daß es für sie notwendig ist, sich in erster Linie in ihren alterstypischen Hauptaufgaben, dem Lernen und der Berufsausbildung zu beschäftigen und darüberhinaus in ihrer Freizeit sich so verhalten, daß es für die Gesellschaft und für sie selbst sinnvoll ist. Sie müssen lernen, das Gift des Klassengegners als solches zu erkennen und dürfen sich nicht von der Beeinflußung durch Westsender von ihren gesellschaftlichen und persönlichen Hauptaufgaben ablenken und irreleiten lassen. Zu ihren Aufgaben gehört auch die gesellschaftliche Aktivität zur Mitgestaltung und das ist auch der Weg für sie, sich wieder Vertrauen und echtes, dauerhaftes Ansehen zu erwerben.

Die Entscheidung über die Auslagen des Verfahrens erfolgte gem. §§ 364, 365 StPO.


[Unterschrift] [Unterschrift]
gez. Kleo gez. W. Richter gez. Schultka


[Siegel Kreisgericht Cottbus (Stadt)]
Ausgefertigt
Cottbus, den 25. Okt. 1968
[Unterschrift:] Hantke
Sekretär des Kreisgerichts-Stadt

[Siegel Kreisgericht Cottbus (Stadt)]
Das Urteil ist rechtskräftig
seit dem 22. 10. 1968
Cottbus, den 25. Okt. 1968
[Unterschrift:] Hantke
Sekretär des Kreisgerichts-Stadt


Quelle: Privat-Archiv Achim Schiemenz

auf Twitter teilen auf Facebook teilen Kommentieren Drucken Artikel versenden
Karte

Zur Karte

Chronik

Zur Chronik