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Mauer 61 - Republikflucht_RHG_Fak_0811a

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Im November 1961 flüchtet der 17-jährige Schüler Falco Werkentin nach West-Berlin. In einem Brief an einen Freund schildert er seine Flucht. Quelle: Privat-Archiv Falco Werkentin, Seite 1 von 6
Im November 1961 flüchtet der 17-jährige Schüler Falco Werkentin nach West-Berlin. In einem Brief an einen Freund schildert er seine Flucht. Quelle: Privat-Archiv Falco Werkentin, Seite 1 von 6


Abschrift:

Im November 1961 flüchtet der 17-jährige Schüler Falco Werkentin nach West-Berlin. In einem Brief an einen Freund schildert er seine Flucht.

Berlin, den

Lieber Hilmar!
Du wirst wahrscheinlich sehr erstaunt sein, meinen Brief aus Westberlin zu erhalten. Ich bin am 13. November mit einem ehemalig. Schulfreund getürmt. Ich habe es im Osten nicht mehr ausgehalten. Wir hatten unsere Flucht so gut es ging vorbereitet. Wir schauten uns unsere Fluchtstelle ein paar mal vorher an: auch abends, um die Beleuchtung zu erkunden. Wir türmten in der Kommandantenstraße am Spittelmarkt. Wir besorgten uns Blechscheren, diese waren sehr schwer zu bekommen, und übten in den Gartenkolonien Stacheldraht schneiden. Am Montag, den 13. November, schrieb ich vormittags in der Schule einen Aufsatz „Eine Mauer zieht durch Berlin – muß das sein“. Da ich nicht sicher war, ob die Flucht gelingt, schrieb ich das, was sie lesen wollten. Am Nachmittag sah ich noch einen Film, in dem ein böser Bonner Abwerber auftauchte. Dies hielt mich auch nicht zurück, die Flucht durchzuführen. Abends um 19.00 fuhren wir in Weißensee ab. Um 19.30 waren wir am Spittelmarkt. Es regnete ziemlich stark. Um diese Zeit fuhren viele Autos der VoPo herum. Wir mußten noch 20 Minuten vergehen lassen, ehe wir beginnen konnten, unsere Flucht auszuführen. Um 19.50 liefen wir in ein Ruinengrundstück, es waren nur noch Lehmhaufen, und schlichen nun von Hügel zu Hügel. Die Grenze war 200 m entfernt. Nach 50 m mußten wir über eine Straße auf ein anderes Grundstück (ebenfalls Lehmhaufen). Es gelang, ohne daß wir bemerkt wurden. Wir kamen nun 100 m weiter an die Grenze heran. Plötzlich stand an der Stelle, an der wir durch den Draht wollten, ein VoPo. Wir lagen 15 Minuten im Lehm, hatten uns Farnkraut aus den Boden gerissen und vor das Gesicht gehalten, als auf einmal aus einem Fenster Lichtsignale gegeben wurden. Wir dachten es galt uns, war aber es war ein Irrtum. Schließlich merkten wir auch, das der „VoPo“ gar kein VoPo war sondern nur ein Mauervorsprung. Wir robbten nun auf dem Bauch weiter. Das war eine große Sauerei, denn es regnete fürchterlich. Wir kamen nun bis auf 20 m an den Zaun heran. Jetzt mußten wir nochmal eine Straße überqueren. Ganz flach auf dem Bauch liegend, rutschten wir in Deckung eines niedrigen Walls auf die andere Seite. Hier ging es dann parallel zur Mauer noch 30 m weiter, denn wir wollten genau zwischen den Posten über die Grenze. Die Posten standen 200 m voneinander entfernt, es waren immer 4–5 Mann, und weitere Posten liefen Streife zwischen Stacheldrahtzaun + Graben bzw. hinter dem Graben. Wir ließen uns schließlich in den Graben fallen und krochen auf der anderen Seite heraus Als plötzlich hinter uns, auf der anderen Seite des Grabens, ein Einzelposten ging. Er hatte seine Kaputze auf und blieb einen Moment stehen. Wir waren beide ganz ruhig, und hatten auch keine Angst, wir waren ganz gefühllos. Der Posten ging endlich weiter. Wollte er uns nicht sehen? oder hatte er uns nicht gesehen? Wir robbten nun weiter bis zum Zaun und zerschnitten die untersten Stacheldrahtschichten. Plötzlich sahen wir von links zwei Posten kommen. Im nu hatten wir den Draht wieder heruntergebogen und waren in den Graben gesprungen. Das Gesicht an die Grabenwand gepresst, ließen wir die Posten vorbei gehen. Nach endlos langer Zeit hatten sie uns passiert und waren 100 Meter entfernt. Wir nichts wie rauß aus den Graben und ran an den Zaun. Wir bogen den vorher schon zerschnittenen Draht hoch und krochen durch. Dann sprangen wir auf und liefen zum Zaun. Aus dem Zaun heraus, also horizontal, kamen Stäbe, zwischen denen 3 Stacheldrähte gespannt waren. Wir schnitten sie so schnell wie möglich durch. Dann half ich meinem Partner auf die Mauer hoch zu kommen, wo er die untersten Schichten des an den Y-Trägern befestigten Stacheldrahtes durchschnitt und sich dann auf die andere Seite der Mauer fallen ließ. Ich so schnell wie möglich hinterher. Dabei zerriss ich natürlich meinen Nylon-Mantel. Geschossen haben die Posten nicht. Jetzt liefen wir immer an der Mauer entlang, da parallel zur Ulbricht-Mauer eine Fabrikmauer gezogen war. Nach Überwindung einer kleineren Mauer gelangten wir in eine Baugrube und schließlich in der Linienstraße [gemeint ist: Lindenstraße] an einen Westpolizisten. Dieser schickte uns aufs nächste Polizeirevier. Wir waren völlig durchnäßt[,] frohren + unsere Sachen waren ungeheuer verdreckt, außerdem z. T. zerrissen. Vom Revier holte uns ein Bekannter meines Vaters ab, bei den ich auch jetzt noch wohne. In der nächsten Woche gehe ich in ein Jugendheim hier in Berlin, da mich mein Vater nicht unterbringen kann und ich mein Abi machen möchte. Ich mußte jeden Tag ins Lager und habe noch nicht alles erledigt, obwohl sich im Lager täglich nur ungefähr 50 Menschen einfinden, die etwas zum erledigen haben. Zum Teil sind es Menschen, die noch vor dem 13. August in den Westen kamen. Diese Bürokraten im Lager. Was sagst Du zu meiner
H e l d e n t a t !
In der neuen Schule in Ost-Berlin war es gräßlich. ⅔ der Eltern meiner Klassenkameraden waren Genossen. Wie die Eltern, so die Schüler. Z. B. sollte ich mich vor einer Klassenkameradin verantworten, weil ich mich vor Demonstrationen drückte, bzw. früher als die anderen verschwand. Außerdem begrüßten einige der Klassenkameraden die Absperrmaßnahmen. Sie unterschrieben auch, keine Feindsender mehr zu hören und halten sich auch daran. Sie freuen sich auch auf die militär. Grundausbildung. Das ich mich in dieser Klasse nicht wohl fühlte, ist wohl verständlich.
Seit Montag gehe ich zur Schule. Die Seiten I – V habe ich übrigens im Unterricht heute geschrieben. Ich bin sehr froh, daß ich es geschafft habe, ohne gesundheitl. Schäden über die Grenze zu kommen.
Wie geht es Dir? Schreibe bitte sofort.
Viele Grüße an die Mutter und an den Bruder.
Dein Falko


Quelle: Privat-Archiv Falco Werkentin

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