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Strausberger Schüler

Im östlich von Berlin gelegenen Strausberg gründet Michael Gartenschläger gemeinsam mit einigen Mitschülern 1960 einen Ted-Herold-Fanklub. Regelmäßig fahren die Schüler nach West-Berlin zu Konzerten und genießen das freie Großstadt leben. Seit...
Im östlich von Berlin gelegenen Strausberg gründet Michael Gartenschläger gemeinsam mit einigen Mitschülern 1960 einen Ted-Herold-Fanklub. Regelmäßig fahren die Schüler nach West-Berlin zu Konzerten und genießen das freie Großstadt leben. Seit der Errichtung der innerdeutschen Grenze 1952 ist die DDR weitgehend abgeriegelt, einzig das Schlupfloch nach West-Berlin ist noch passierbar. Mit dem Mauerbau am 13. August 1961 ist es damit auch vorbei. Quelle: Lothar Lienicke
Ostdeutsche Fans des westdeutschen Rock ’n’ Roll Stars Ted Herold–die Strausberger Clique 1961: Gerd Peter Riediger, Karl Heinz Lehmann, Michael Gartenschläger und Jürgen Höpfner (von links). Alle vier und der Fotograf Gerd Resag werden im August...
Ostdeutsche Fans des westdeutschen Rock ’n’ Roll Stars Ted Herold–die Strausberger Clique 1961: Gerd Peter Riediger, Karl Heinz Lehmann, Michael Gartenschläger und Jürgen Höpfner (von links). Alle vier und der Fotograf Gerd Resag werden im August 1961 verhaftet. Quelle: Lothar Lienicke
Die Rock’n’Roll Fans bemalen ihre Hemden selbst mit Motiven ihrer Idole. Während des Prozes ses gegen die Jugendlichen im Kulturhaus der Nationalen Volksarmee in Strausberg wird das Hemd als Beweisstück der „Wühltätigkeit gegen die DDR“ in...
Die Rock’n’Roll Fans bemalen ihre Hemden selbst mit Motiven ihrer Idole. Während des Prozes ses gegen die Jugendlichen im Kulturhaus der Nationalen Volksarmee in Strausberg wird das Hemd als Beweisstück der „Wühltätigkeit gegen die DDR“ in einer Vitrine ausgestellt. Quelle: BStU-Kopie
"SED – NEE". Gegen den Mauerbau am 13. August 1961 regt sich nur geringer Widerstand, obwohl es in der DDR-Bevölkerung heftig rumort. Die meisten lehnen den Mauerbau ab. Die Gruppe um Michael Gartenschläger macht ihrem Ärger Luft: Die Jugendlichen...
"SED – NEE". Gegen den Mauerbau am 13. August 1961 regt sich nur geringer Widerstand, obwohl es in der DDR-Bevölkerung heftig rumort. Die meisten lehnen den Mauerbau ab. Die Gruppe um Michael Gartenschläger macht ihrem Ärger Luft: Die Jugendlichen bringen an öffentlichen Gebäuden Losungen wie diese an. Quelle: BStU, MfS, Ast Frankfurt/O., AU 122/61, S. 74
„Heute rot, morgen tot“, lautet der Spruch, den Michael Gartenschläger und seine Freunde an öffentlichen Gebäuden anbringen, um gegen den Bau der Mauer zu protestieren. Quelle: BStU, MfS, Ast Frankfurt/O., AU 122/61, S. 74
„Heute rot, morgen tot“, lautet der Spruch, den Michael Gartenschläger und seine Freunde an öffentlichen Gebäuden anbringen, um gegen den Bau der Mauer zu protestieren. Quelle: BStU, MfS, Ast Frankfurt/O., AU 122/61, S. 74
Ein Zeichen für den Protest gegen den Mauerbau und das SED Regime sind die Losungen, die die Jugendlichen an die Garagen in der Strausberger Philipp Müller Straße schreiben. Quelle: BStU, MfS, Ast Frankfurt/O.,AU122/61, S.74
Ein Zeichen für den Protest gegen den Mauerbau und das SED Regime sind die Losungen, die die Jugendlichen an die Garagen in der Strausberger Philipp Müller Straße schreiben. Quelle: BStU, MfS, Ast Frankfurt/O.,AU122/61, S.74
Gerd Resag und Michael Gartenschläger mit ihren Freundinnen in der Bundesrepublik 1972. Gesundheitlich stark angegriffen, wird Gartenschläger 1971 von der Bundesrepublik freigekauft. Quelle: Gerd Resag
Gerd Resag und Michael Gartenschläger mit ihren Freundinnen in der Bundesrepublik 1972. Gesundheitlich stark angegriffen, wird Gartenschläger 1971 von der Bundesrepublik freigekauft. Quelle: Gerd Resag
Außschnitt aus dem Propaganda­-Artikel in der „Deutschen Lehrerzeitung“ vom 19.September 1961 über den Prozess. Im Bild (von rechts) Gerd Resag, Michael Gartenschläger, Karl Heinz Lehmann, Gerd Peter Riediger, Jürgen Höpfner. Quelle: Deutsche...
Außschnitt aus dem Propaganda­-Artikel in der „Deutschen Lehrerzeitung“ vom 19.September 1961 über den Prozess. Im Bild (von rechts) Gerd Resag, Michael Gartenschläger, Karl Heinz Lehmann, Gerd Peter Riediger, Jürgen Höpfner. Quelle: Deutsche Lehrerzeitung vom 19. September 1961

Strausberg ist eine hübsch gelegene Kleinstadt am östlichen Rand von Berlin. Ab 1956 sitzen dort das Ministerium für Nationale Verteidigung, der Generalstab und andere Dienststellen der Nationalen Volksarmee (NVA). In neu errichteten Wohnblocks leben Offiziere und ihre Familien. Nicht gerade ein aufregendes Pflaster für den 17-jährigen Rock-'n'-Roll-Fan Michael Gartenschläger und seine Kumpel.

Die Clique gründet 1960 in Strausberg einen Fanklub für den Rock-'n'-Roll-Star Ted Herold und setzt eine Anzeige in die Jugendzeitschrift Bravo, die nur in der Bundesrepublik erscheint. Die Rock-'n'-Roll-Fans bekommen viel Post von Jugendlichen aus dem Westen, und so wird auch die Volkspolizei auf sie aufmerksam. Bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt sie die wertvollen Schallplatten. Kein Wunder, dass die Jugendlichen äußerst sauer sind.

Die Schüler fahren regelmäßig nach West-Berlin. Dort gibt es die Schallplatten und Poster ihrer Rockidole. Dort können sie auf Konzerte gehen oder in spannende Kinovorstellungen, kurz: Dort tobt das Großstadtleben. Zum letzten Mal sind sie dort am 12. August 1961. In der folgenden Nacht sperren Grenzpolizei und Kampfgruppen die Sektorengrenze ab – der Bau der Mauer beginnt. Schon am Stadtrand von Ost-Berlin finden strenge Kontrollen statt.

Viele erwachsene DDR-Bürger sind verärgert, schimpfen über die Sperrmaßnahmen und bleiben dennoch untätig. Michael Gartenschläger und seine Freunde hingegen besorgen sich weiße Farbe und verzieren das überdimensionale Wandgemälde „Die Verbundenheit der Bevölkerung mit den bewaffneten Organen“. Das befindet sich in der Armeesiedlung in Strausberg. Am nächsten Abend malen sie Parolen an Scheunenwände und Garagen. Später sitzen sie in einer ihrer Lieblingskneipen, der Müncheberger Klause, und erzählen von ihren Heldentaten.

Lebenslänglich mit 17: Die SED schlägt mit voller Härte zu

In der nächsten Nacht radeln einige der Jugendlichen mit ihren Fahrrädern nach Wilkendorf und zünden eine Feldscheune der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft „Einheit“ an. Die Feuerwehr löscht den Brand, doch diese Aktion soll das Fanal zum Aufstand in Strausberg werden. Am 19. August 1961 werden Michael Gartenschläger und vier seiner Freunde verhaftet und in ein Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gebracht.

Die SED und das MfS beschließen, diese Brandstiftung in einem Schauprozess zu behandeln und die Angeklagten mit exemplarischer Härte zu verurteilen. Der Prozess findet im Strausberger Kulturhaus der NVA als Schauprozess vor „erweiterter Öffentlichkeit“ statt. Die DDR-Presse berichtet ausführlich darüber, und selbst die empörten Reaktionen aus dem Westen scheinen der SED ins Kalkül zu passen: In der ersten Zeit nach dem Mauerbau setzt die SED ganz auf Einschüchterung und Abschreckung.

Michael Gartenschläger und sein Freund Gerd Resag (beide 17-jährig) werden am 15. September 1961 zu lebenslangen Zuchthausstrafen verurteilt. Karl-Heinz Lehmann (17) bekommt fünfzehn, Gerd-Peter Riediger (18) zwölf Jahre. Der 18-jährige Jürgen Höpfner wird zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, obwohl er sich an den Aktionen der Gruppe nicht beteiligt hatte. Diese hohen Strafurteile gegen die Strausberger Schüler werden wie Tausende anderer Fälle in der Bundesrepublik von der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter registriert.

Eine Einladung, die von Herzen kommt: In der Bundesrepublik protestieren zahlreiche Menschenrechtsgruppen mit verschiedenen Aktionen gegen die Mauer und das SED-Grenzregime. Dieses ironische Flugblatt kommt als „Anzeige des Ministeriums für Staatssicherheit...
Eine Einladung, die von Herzen kommt: In der Bundesrepublik protestieren zahlreiche Menschenrechtsgruppen mit verschiedenen Aktionen gegen die Mauer und das SED-Grenzregime. Dieses ironische Flugblatt kommt als „Anzeige des Ministeriums für Staatssicherheit und Touristik“ daher. Quelle: BStU, MfS, ZAIG/Fo/137, Bild 6
Einer, der nicht schweigen kann: Michael Gartenschläger an der Grenze zur DDR, aufgenommen kurz vor seinem Tode im Jahre 1976. Foto: Kai Greiser
Einer, der nicht schweigen kann: Michael Gartenschläger an der Grenze zur DDR, aufgenommen kurz vor seinem Tode im Jahre 1976. Foto: Kai Greiser
Ein Jahr nach den Todesschüssen: An jener Stelle, an der Michael Gartenschläger am 30. April 1976 beim Versuch, Selbstschussanlagen zu demontieren, von DDR-Grenzsoldaten gezielt erschossen wird, ist ein Mahnkreuz errichtet worden. Erich Dankschat und...
Ein Jahr nach den Todesschüssen: An jener Stelle, an der Michael Gartenschläger am 30. April 1976 beim Versuch, Selbstschussanlagen zu demontieren, von DDR-Grenzsoldaten gezielt erschossen wird, ist ein Mahnkreuz errichtet worden. Erich Dankschat und weitere Mitglieder der bundesdeutschen Gesellschaft für Menschenrechte legen dort am ersten Todestag des Unbeugsamen einen Kranz nieder, fotografiert von einem in der bundesrepublik lebenden IM des MfS. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Solche Selbstschussautomaten vom Typ SM 70 werden zu Beginn der 1970er Jahre an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze montiert. SM steht für Splittermine, die 70 für das Entwicklungsjahr und die Einführung der neuen Waffe bei der NVA. Ausgelöst...
Solche Selbstschussautomaten vom Typ SM 70 werden zu Beginn der 1970er Jahre an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze montiert. SM steht für Splittermine, die 70 für das Entwicklungsjahr und die Einführung der neuen Waffe bei der NVA. Ausgelöst werden die Selbstschussautomaten durch feine Metalldrähte, zum Beispiel wenn jemand versucht, die Grenzanlagen zu übersteigen. Dabei verstreuen sie tödliche Metallsplitter. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Nach zehn Jahren Haft und zwei Ausbruchsversuchen wird Michael Gartenschläger 1971 von der Bundesrepublik freigekauft. Doch die Verhältnisse in der DDR und die innerdeutsche Grenze lassen ihn nicht los: In zwei spektakulären Aktionen montiert Gartenschläger an der DDR-Grenze angebrachte Selbstschussanlagen ab, um sie der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Ein dritter Versuch in der Nacht zum 1. Mai 1976 scheitert, weil das MfS präventiv eine Spezialeinheit an der Grenze stationiert hatte. Michael Gartenschläger stirbt im Kugelhagel des Todeskommandos. Seine sterblichen Überreste verschwinden zunächst spurlos.Die letzte Ruhestätte Gartenschlägers auf dem Schweriner Waldfriedhof wird von DDR-Regierung geheim gehalten. Erst nach der Friedlichen Revolution findet man sein Grab.

Zitierempfehlung: „Straußberger Schüler“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145358


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